Showkandidat Liu Yichen beim Lösen eines Schreibrätsels. Die Frage: Wie schreibt sich "Luoluo Daduan" - deutsch: "Es ist alles sehr verständlich." Seit dem Start sorgt das Quiz in China für Furore.

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Freitagabend, kurz nach 20 Uhr. Über die chinesischen Fernsehbildschirme flimmert zur besten Sendezeit eine neue TV-Show: "Chinas großes Schriftzeichen-Quiz". 14- bis 15-jährige Teenager der besten Mittelschulen des Landes treten gegeneinander an. Die Moderatorin ist eine bekannte TV-Nachrichtensprecherin mit besonders klarer Aussprache der unterschiedlichen Töne in der hochchinesischen Sprache.

"Bist du bereit?", fragt sie einen Kandidaten und liest ihm ein vier Zeichen langes Wort vor: "Chanchan Weiwei." Die Kamera schwenkt ins Publikum. Einige blättern schon in Wörterbüchern, surfen auf iPads nach den Zeichen, die "zittern und vibrieren" bedeuten. Der Junge darf keine Hilfsmittel benutzen, hat nur 30 Sekunden Zeit. Über einen Bildschirm verfolgen die Zuschauer, wie er mit einem elektronischen Griffel vier Zeichen aufmalt, die aus 78 Strichfolgen bestehen. Laut ticken die letzten Sekunden.

Alle warten auf die Lichtsignale der Jury, in der drei renommierte Sprachexperten sitzen. Rot leuchtet auf. "Alles richtig", verkündet die Moderatorin. Der Junge verbeugt sich. Er kommt eine Runde weiter.

Zur besten Sendezeit lockt dieses einfach gestrickte Quiz um Chinas Schrift Millionen vor die Fernseher. Das neue Spiel scheint den Nerv eines Landes zu treffen, das mitten im Umbruch einer gigantischen Modernisierung steckt, auf der Suche nach seiner verlorengegangenen Identität ist und nun den Wert seiner besonderen Sprache wiederentdeckt.

Chinesisch ist das einzige tradierte Schriftsystem der Welt, das anders als das Alphabet weitgehend unabhängig von Aussprache und Bedeutung der Wörter existiert. Wer ein Wort hört und versteht, kann es nicht automatisch auch schreiben. Dennoch wird diese so mühsam erlernbare Schrift weltweit von mehr als 1,5 Milliarden Menschen genutzt.

Die Sendung ist der Schlussstrich unter alle seit der Erneuerungsbewegung des 4. Mai im Jahr 1919 wiederholt unternommenen Anstrengungen, die überlieferte Zeichenschrift durch eine latinisierte Umschrift zu ersetzen. Revolutionären galt sie immer als Hemmschuh der Modernisierung Chinas. Staatengründer Mao Tse-tung suchte 1951 sogar Rat bei Stalin, wie sie sich abschaffen lasse. Noch 1956 bestand er darauf, alle Schriftzeichen durch Buchstaben zu ersetzen und ließ alle Kritiker als Reaktionäre verfolgen. Seine Nachfolger nahmen 1978 die radikalsten Teile der Schriftreformen zurück. 2000 erkannten sie die Koexistenz der neuen Kurzzeichen mit den früheren Langzeichen an.

Traditionsnostalgie

"Hinter dem Erfolg des TV-Quiz versteckt sich eine starke Nostalgie für Tradition", schrieb die Nachrichtenagentur Xinhua. Das sei umso überraschender, weil China mit Riesensätzen in das digitalisierte IT-Zeitalter hineingesprungen sei. 591 Millionen Chinesen hätten heute Zugang zum Internet, und 1,1 Milliarden Mobiltelefone seien im Umlauf.

Gerade Computer aber haben Chinas Schreibkrise ausgelöst. Anders als im Ausland, wo nur bedauert wird, wie die brachliegende Kunst der Handschrift verkümmert, schlagen Chinas Kulturkritiker Alarm. Sie sehen ihre Dynastien überdauernde, einheitsstiftende Schrift existenziell bedroht. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo erstmals in der Geschichte immer mehr Menschen weltweit Chinesisch sprechen, lesen und schreiben wollten, sagen sie. In der Volksrepublik verlernten Millionen die Fähigkeit, von Hand zu schreiben. Sie würden sich auf iPhones und iPads verlassen, die nach Eingaben in latinisierter Umschrift (Hanyu Pinyin) die gesuchten Zeichen produzieren.

94 Prozent der Bürger in zwölf Großstädten sagten nach einer Umfrage des größten Demoskopieinstituts Lingdian, sie könnten sich oftmals nicht erinnern, wie ein Zeichen geschrieben wird. Jedem Vierten passiere das ständig. Das TV-Spiel, so schrieb eine Pekinger Zeitung, "ist ein Weckruf zur Reflexion und Neubewertung von Kultur und Tradition unserer Schrift. Es zeigt, wie das Kind im Märchen von Des Kaisers neue Kleider, wie nackt wir dastehen, wenn es um unsere Sprache geht."

Deshalb ist das Quiz seit seiner ersten Ausstrahlung Anfang August in aller Munde. Schon nach den ersten Folgen kam es auf Einschaltquoten wie sonst nur die chinesische Version von Voice. Das Finale der ersten Runde sahen mehr als 25 Millionen Zuschauer. Die Siegerin unter den 15 Teilnehmern, die Mittelschülerin Lu Jialei von der Fremdsprachenschule Hangzhou, wurde über Nacht ein Star. Moderatorin Li Yuhua sprach von einem Triumph für die Schrift, für China und für das "Selbstvertrauen der Nation. Wir haben wieder Hoffnung." (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 9./10.11.2013)