Frankreich und Ungarn sind die beiden europäischen Länder, in denen die jüdische Bevölkerung laut einer Umfrage am meisten über Antisemitismus klagt. Die Vorfälle dürften unterschiedliche Wurzeln haben - in Frankreich (jüdische Bevölkerung rund 500.000) gibt es einen nennenswerten Anteil an muslimischer, arabischstämmiger Bevölkerung, wo der Antisemitismus sich mit Antizionismus (gegen Israel) vermengt. In Ungarn (jüdische Bevölkerung rund 100.000) spielt wohl ein alter magyarischer Ultranationalismus eine Rolle, der von der Regierung Viktor Orbán teils gefördert, teils nicht wirklich effektiv bekämpft wurde.

Die Europäische Union für Grundrechte (FRA) hat die Umfrage in jenen EU-Ländern durchgeführt, wo schätzungsweise etwa 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung insgesamt leben (Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Lettland, Schweden, Ungarn). Die Befragten sagten zu rund zwei Dritteln, es bestehe Grund zur Sorge, und zu drei Vierteln, die Situation habe sich verschlechtert. So, dass man ans Auswandern denken würde, sei es aber vor allem in Frankreich und Ungarn.

Antisemitismus ist unausrottbar, man kann ihn bestenfalls eindämmen. Er bleibt dann zwar auch bei einem gewissen Prozentsatz als unterirdisches Rinnsal, aber er gelangt nicht in den Mainstream einer Gesellschaft oder gewinnt gar Einfluss auf politische Entscheidungen. In Ungarn scheint dieser Punkt zwar noch nicht erreicht, aber die Entwicklung ist äußerst ungut: Ein Abgeordneter der Jobbik-Partei forderte vor einiger Zeit, man müsse die Juden "kennzeichnen". Jobbik ist die drittgrößte Partei. Orbán hat sich zwar gegen Antisemitismus ausgesprochen, aber die nationalistische und autoritäre Linie seiner Regierung schafft eine Atmosphäre, in der sich auch der Antisemitismus ermutigt fühlt. Dennoch hat sich die Europäische Volkspartei (der konservative Verband, zu dem auch Orbáns "Fidesz" gehört) noch nicht zu energischen Schritten bewegen lassen, und Außenminister Michael Spindelegger war lange auch sehr sparsam mit Kritik.

Die Situation in Frankreich (wo es zu Angriffen auf jüdischen Schüler kam) ist differenziert. Wichtige Vertreter der muslimischen Geistlichkeit, wie etwa der Mufti der Grande Mosquée de Paris, Dalil Boubakeur, haben sich immer wieder gegen Antisemitismus ausgesprochen und haben gemeinsam mit christlichen und jüdischen Würdenträgern Versöhnungsgesten gesetzt. Gleichzeitig aber gibt es unter den Massen der perspektivlosen muslimischen Jugendlichen in den Vorstädten einen breiten, primitiven "Volksantisemitismus".

Offen ausbrechender, massenhaft gewalttätiger, gar pogromartiger Antisemitismus wie in Hitler-Deutschland vor 75 Jahren (wo er staatlich organisiert war, aber gerade auch in Österreich begeisterte Mitmacher fand) ist im Europa von heute nicht zu befürchten. Aber der Alltagsantisemitismus der vielen, kleineren hässlichen Vorfälle, der immer ein Auf und Ab kennt, mag stärker geworden sein. Entscheidend ist, dass dem nicht nur die Behörden und Regierungen, sondern auch die Bürger entschieden entgegentreten: die ersten Anzeichen von Übergriffen gar nicht aufkommen lassen. (Hans Rauscher, derStandard.at, 8.11.2013)