Doris Knecht ist keine Läuferin: Knecht ist Kolumnistin. Unter anderem im Kurier. Dort hat sie – vor fast einem Jahr – über jene kleine Begebenheit geschrieben, die ich ein paar Wochen davor in einem Halbsatz auf Facebook festgehalten hatte. Knecht ist korrekt: Sie fragte (vorab), ob es ok sei, mein Erlebnis in ihrer Kolumne zu verbraten. So etwas gilt heute als "Old School". Also als unzeitgemäß. Genauso unzeitgemäß wie "der Blutsch".

Knecht hatte über den Blutsch geschrieben. Und im Gegensatz zur Zielgruppe dieser Kolumne muss sie ihrem Publikum erklären, wer oder was "der Blutsch" ist. Nicht einfach ein Laufschuhhändler, sondern eine Institution. (Und seit Tony Nagy – vulgo "der Tony" – in Pension ist, nicht "eine" sondern "die" Institution in Wien.) Eine Instanz. "Herr Blutsch, Sie verkaufen keine Laufschuhe, Sie verschreiben sie", soll eine Kundin einmal gesagt haben, nachdem sie in der Liniengasse eingekauft hatte.

Foto: thomas rottenberg

Viele Händler würden da die Hände ringen: Darf sich ein Kunde derart bevormundet fühlen? Aber Hans Blutsch erzählt diese Geschichte gerne und stolz. Am liebsten, wenn jemand, der gerade zum ersten Mal in den unauffälligen, im ersten Stock eines stinknormalen Mariahilfer Altbaus versteckten Laden gefunden hat, von ihm sanft genötigt wird, auch noch mit dem vierten oder fünften Paar Laufschuhen durch die zum Geschäft umgebaute Wohnung Probe zu laufen. Bis Hans Blutsch sich entschieden hat.

Für Hans Blutschs Kunden ist das Wort des gebürtigen Amstettners Gesetz. Stammkunden wagen es mitunter, zu sagen, welcher Schuh sich "subjektiv" besser anfühlt. Hans Blutsch hört dann zwar aufmerksam zu, doch am Ende fällt trotzdem er die Entscheidung. Sie wird akzeptiert: Statt von Kunden kann man getrost von Jüngern sprechen.

Foto: thomas rottenberg

Ich bin – ich gebe es offen zu – einer von ihnen. Seit Jahren. Schuhe, die Blutsch verschreibt, kaufe ich. Er hat sich (bei mir, es wird sicher auch andere Erfahrungen geben) noch nie geirrt. Auch wenn Hersteller mir Schuhe zu – ähem – "Testzwecken" (Frage: Wer nimmt einen "zu Testzwecken" journalistisch durchgeschwitzten und verdreckten Sportschuh zurück? Und: Was tut man dann damit? ) schicken, trage ich sie spätestens nach dem zweiten Lauf zu Hans Blutsch. Und lasse ihn entscheiden. Habe ich das Gefühl, ein Schuh ist "durch"? Auf zum Blutsch.

"Ja, dieser Schuh ist schon älter, aber noch gut. Und er passt auch zum Fuß. So wie Sie derzeit laufen, hält der wohl noch eine Saison", sagte der Vollbärtige vorige Woche. Ich war mit einer Freundin, die nach etlichen Sofa-Jahren wieder auf die Laufstrecke wollte, zu ihm gekommen. Die Frau hatte mir vorher den Vogel gezeigt: "Welcher Händler würde so was tun – und auf ein sicheres Geschäft verzichten?"

Der Unterschied

Genau das ist der Unterschied zwischen der Kategorie Blutsch (es gibt sicher tausend Andere, die auch so arbeiten – ich kenne sie nur nicht. Mein Fehler) und den bei jeder Frage überfordert-genervten Mac-Jobbern in Sportketten oder gar einem Online-Shop: Natürlich lebt auch der Mann im ersten Stock in Mariahilf davon, zu verkaufen.

Aber er weiß, dass die Kunden, die sich gut beraten fühlen, gerne wieder kommen. Und dass sie akzeptieren, dass gutes Service eine Leistung ist, die Wert hat. Also auch honoriert und bezahlt werden darf und muss: Ich frage auch im Haubenlokal nicht nach den Preisen – oder vergleiche sie mit denen des Beisls gegenüber. Obwohl Schnitzel doch Schnitzel ist. Aber frisch bekehrte "Blutschianer" sagten mir öfter als einmal, dass Schuhe im Kettenshop in der Regel gleichviel kosten. Trotz Nullservice und größeren Mengen.

Foto: thomas rottenberg

Wieso ich mich just jetzt erinnere, dass die Nicht-Läuferin Knecht einst eine Hymne über den Schuhverkäufer aus Mariahilf anstimmte? Nun, langsam wird es Zeit für die leicht wasserbeständigeren Laufschuhe. Und obwohl die schweren, klobig und langsamen – aber eben fast wasserdichten Böck, die mir da in die Hände fielen, (noch) Pause haben, fiel mir da die Knecht-Blutsch-Geschichte ein.

Denn auch diese Schuhe verpasste mir Blutsch. Im Spätherbst 2011. Um Neujahr fiel mir auf, dass ich nasse Füße bekam. Wenn Schnee von oben Socken nass macht, ist das normal. Bloß: Links war das immer viel früher so. Und zwar auch, wenn der Schnee nicht über den Socken kam. Und die Ferse blieb trocken. "Bringen Sie mir den Schuh vorbei. Das will ich mir anschauen“ sagte Blutsch, als ich ihm Ende Februar 2012 davon erzählte.

Natürlich vergaß ich darauf: Man hat ja nicht nur ein Paar Laufschuhe. Und ab März läuft man zum Glück eher selten mit dem Pendant zum Bundesheer-Zweierbock. Doch Hans Blutsch vergaß nicht. Im August 2012 erinnerte er mich: "Sie hatten doch dieses Problem mit dem Schuh ..." Es dauerte bis Oktober, bis ich das Ding vorbei brachte. Auch nur, weil er jedes Mal fragte. Sowas nervt.

Foto: thomas rottenberg

Hans Blutsch nahm den Schuh – und ging zum Waschbecken. "Hm. Hm. Da ist nix", sagte er. Für mich war die Sache erledigt. Doch Blutsch hielt den leicht abgelatschten Schuh fünf Minuten unter das fließende Wasser. Drehte. Drückte. Rieb. Dann kam: "Ach ja, stimmt! Da kommt wirklich was durch!" Mehr als "Aha. Tja, blöd", fiel mir nicht ein. Blutsch schon: "Mit so einem Schuh kann man unmöglich laufen", sagte der Händler. Verschwand im Lager. Tauchte mit einem Stapel Kartons auf: "Na schauen wir mal."

Damit hatte ich gerechnet: Dass ich einen Winterschuh brauchte, stand ja außer Frage. Ein löchriger Schuh ist im Sommer lästig – im Winter im Wald aber im schlimmsten Fall sogar gefährlich. Was dann kam, überraschte mich aber doch: "Nein, das ist eine Reklamation. Der kostet natürlich nichts. Den Kaputten schicke ich zurück." Dass der Neue von einer anderen Marke war, spiele keine Rolle. Auch, dass der Alte ein Jahr "gut eingelaufen" war. Die Rechnung? Pah! "Für diesen Mangel kann der Kunde nichts."

In jeder Branche ein Blutsch

Auf facebook – und auch nachdem Knecht über die Episode geschrieben hatte – raunzten die üblichen Verdächtigen: Ein Händler könne leicht kulant tun, wo er doch vom Hersteller entschädigt werde. Mag sein. Bloß: Versuchen Sie die Nummer mal bei einer Kette. Oder einem Internetversand. Nach über einem Jahr. Mit offensichtlich intensiv benutzter Ware. Viel Spaß.

Darum ende ich dort, wo auch Doris Knecht ihr Fazit zog: Diese Art von Beratung findet man nur in solchen Läden. Wer Wert darauf legt, dass es dieses Service auch in Zukunft gibt, der muss auch in derartigen Geschäften einkaufen. Nicht nur Laufschuhe. Auch Bücher. Brot. Wasauchimmer: Leute wie Hans Blutsch gibt es nämlich in jeder Branche. Und nach ihnen zu suchen zahlt sich aus. Immer. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 6.11.2013)