"Männer sagen, sie wurden geschlagen, aber es habe nicht wehgetan. Anscheinend ist das Kriterium der Schmerz", erklärt Psychotherapeut Arno Dalpra, Leiter der Gewaltberatung des Instituts für Sozialdienste (ifs) in Vorarlberg.

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Der Vorarlberger Psychotherapeut Arno Dalpra sprach mit Jutta Berger über männliche Gewalterfahrungen.

derStandard.at: Warum spielen Opfererfahrungen von Männern in der Gewaltdebatte keine oder nur eine geringe Rolle?

Dalpra: Man könnte den Eindruck bekommen, dass es den Mann als Opfer gar nicht gibt. Vielleicht weil die Zuordnung von Männern stärker abgelehnt wird als von Frauen. Es scheint, als wäre es für Frauen zulässiger, sich als Opfer zu bezeichnen, als für Männer. Das sehe ich aber als selbstauferlegte Zensur, die subtil und unterschwellig abläuft. Opfer ist keine lebenslange Zuschreibung, sondern ein Zustand, der bedauerlicherweise stattgefunden hat, aber auch ein Zustand, aus dem sich jeder befreien kann. Opfer wie Täter haben eine Scham, über das Erlebte zu sprechen. Natürlich ist die Wahrnehmung eine andere. Aber beide haben die Tendenz, vom Ereignis wegzugehen, es geht aber darum, sich mit dem Ereignis auseinanderzusetzen.

derStandard.at: Warum nehmen Frauen die Bezeichnung Opfer leichter an?

Dalpra: Das ist keine Frage des Annehmens. Es ist eine Frage des Mutes, zu formulieren, dass einem etwas geschieht, das man nicht haben möchte, dass etwas mit einem gemacht wird, das man nicht zulassen möchte. Männern fällt es aufgrund ihrer Sozialisation sehr schwer, Leid, das ihnen widerfährt, zu benennen. Es braucht sehr lange, bis sie über Leidvolles sprechen können. Sie versuchen, Probleme irgendwie selbst zu lösen, sie kompensieren, bagatellisieren.

derStandard.at: Welche Gewalterfahrungen machen Männer? 

Dalpra: Ich erlebe in der Beratung oft, dass Männer sagen, sie wurden geschlagen, aber es habe nicht wehgetan. Anscheinend ist das Kriterium der Schmerz. Doch jeder Übergriff ist Gewalt.

derStandard.at: Von wem erfahren Männer Gewalt?

Dalpra: In der schlagenden Gewalt zu 60 Prozent von Männern. Viele erfahren Gewalt durch sexuelle Übergriffe. Die Verursacher sind auch in diesem Bereich in der Mehrzahl Männer.

derStandard.at: Männer gelten als wenig gesundheitsbewusst. Sie suchen spät oder gar keine Hilfe. Gilt das auch für die Bewältigung von Gewalterfahrungen?

Dalpra: Die Achtsamkeit der Männer gegenüber ihrer seelischen Gesundheit ist ähnlich nachlässig wie gegenüber ihrer körperlichen Gesundheit. Oft sind es körperliche Reaktionen, die einen Mann zwingen, sich mit Gewalterfahrungen auseinanderzusetzen. Der Körper macht die Dynamik des Verdrängens, des Zurückhaltens, des Aushaltens, des Sich-Disziplinierens nicht mehr mit. Häufige erste Symptome sind Schlafstörungen, die versucht man dann mit Medikamenten abzudämpfen. Spätere Folgen können depressive Schübe sein, Burnout oder Suchtprobleme.

derStandard.at: Was hindert Buben und Männer, über Demütigungen zu reden - was hindert sie, Hilfe zu suchen?

Dalpra: Viel liegt in der Erziehung, in der Sozialisation begründet. Männer werden darauf vorbereitet, alles auszuhalten. Der bagatellisierende Sager vom Indianer, der keinen Schmerz kennt, hat noch nicht ausgedient. Dazu kommt, dass Buben in der Früherziehung, in der Grundschule kaum männliche Bezugspersonen haben. Sehr früh geht es schon um Imponiergehabe. Sie wollen gefallen, Männer lernen aber nicht, ihre Gefühle zu benennen. Wut oder ein aggressiver Ausbruch gelten hingegen als für Männer zulässiger Ausdruck von Gefühl.

derStandard.at: Welchen Stellenwert hat die Männerberatung in unserer Gesellschaft?

Dalpra: Österreichweit wurden Begegnungsmöglichkeiten und Beratungsstellen eingerichtet. Der Gedanke, dass Männer über ihre Gefühle sprechen sollten und sich mit ihren Erfahrungen, Befindlichkeiten auseinandersetzen, müsste sich aber gesellschaftlich noch stärker durchsetzen. Es sollte mehr Achtsamkeit geben, Gewalt sollte nicht als geschlechtsspezifisch gesehen werden, sondern als ein Problem, das alle Menschen betrifft.

derStandard.at: Kommen eher Täter oder Opfer in die Beratung?

Dalpra: In den Beratungsstellen ist der Anteil der Männer, die sich als Opfer deklarieren, geringer. Eher kommen Männer, die Symptome zeigen. In der Beratung versucht man zu rekonstruieren, es erfolgt dann oft die Erkenntnis, dass Opfererfahrungen vorhanden sind. Das zu akzeptieren fällt oft schwer. Man bedenke dabei, dass bei Jugendlichen der Begriff "Opfer" äußerst negativ, ein Schimpfwort ist. Das zeigt auch, dass wir Erwachsene den Begriff inflationär verwenden. Die Beschreibung bleibt leider oft ein Leben lang haften. Obwohl fast jeder Mensch Opfererfahrungen hat und es den meisten gelingt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

derStandard.at: Immer wieder heißt es, Opfer laufen Gefahr selbst Täter zu werden. Ein Vorurteil?

Dalpra: Die Kausalität, dass ein Opfer zum Täter wird, gibt es. Aber es ist nicht die Mehrheit. Wir haben sehr viele schlagende Männer, die nie körperlicher Gewalt ausgesetzt waren. Es trifft eher nicht zu, dass jemand, der Gewalt ausgesetzt war, auch selbst gewalttätig wird. Grundsätzlich ist jeder Mensch bereit, Gewalt auszuüben, es liegt daran zu erkennen, dass man diese scheinbare Lösung nicht anwendet. Es geht darum, früh zu lernen, dass man fähig ist, andere Lösungsstrategien zu entwickeln. (Jutta Berger, derStandard.at, 6.11.2013)