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Ihre enorme Beweglichkeit macht die Schulter sehr verletzlich.

Foto: Corbis

Schimpansen sind bärenstark. In Experimenten stemmten sie viermal schwerere Gewichte als Menschen. Steine oder Bälle werfen können Letztere hingegen viel zielsicherer und mit größerer Wucht. Manche Wissenschafter behaupten, dass genau dieses Talent der Entwicklung der Frühmenschen einst den entscheidenden Schub verpasst hat.

"Das Werfen war bei der Jagd ein enormer Vorteil, um effektiv und aus sicherer Distanz töten zu können", sagt Anthropologe und Evolutionsforscher Neil Roach von der George-Washington-Universität in Washington, D.C.

Enorm flexibel

Nach Roachs Überzeugung hat die besondere Anatomie der menschlichen Schulter, die sich vor rund zwei Millionen Jahren auszuprägen begann, diesen Vorteil ermöglicht: Unser Schultergelenk ist enorm flexibel. Es ermöglicht die schnellsten Bewegungen, zu denen der menschliche Körper fähig ist, und bis zu 1.500 volle Umdrehungen des Armes pro Minute.

Doch wir zahlen einen hohen Preis für diese Dynamik: Die menschliche Schulter ist wie jede Hochtechnologie - sehr empfindlich. Rabiater Gebrauch kann zu Schmerzen führen. Vor allem wird, wer seine Schultergelenke einrosten lässt, oft bestraft. In der Frühzeit gab es weder Bürohengste noch Couch-Potatoes - die Schulter war der Schlüssel zum Erfolg.

Überleben der Fitten

"Das eiweißreiche Fleisch der Beutetiere ermöglichte es unseren Vorfahren erst, größere Gehirne und Körper zu entwickeln und mehr Nachkommen hervorzubringen", sagt Roach.

Der amerikanische Neurobiologe William Calvin aus Seattle geht noch weiter und bringt auch die Gehirnentwicklung selbst ganz konkret mit der intensiven Jagdaktivität des frühen Menschen in Verbindung, die dessen raffiniert konstruiertes Schultergelenk begünstigt hat: Wer ein kleines, bewegliches Ziel - zum Beispiel einen Hasen auf der Flucht - aus vier Metern mit einem Steinwurf treffen will, muss seine Bewegungen so koordinieren, dass er das Geschoß in einem Zeitfenster von nur elf Millisekunden loslässt. Sonst wirft er daneben.

Solche Präzision wiederum verlange nicht nur einen leistungsfähigen Bewegungsapparat, argumentiert Calvin. Sie brauche auch ein hochentwickeltes Gehirn. Unser komplexes Lenk- und Denkzentrum sei demnach ursprünglich entstanden, um zielsicher werfen zu können.

Bis zu 170 Stundenkilometer

Die Leistungen beim Werfen sind eindrucksvoll. Baseballer, die einen Ball auf ein Ziel schleudern, beschleunigten ihn auf eine Geschwindigkeit von bis zu 170 Stundenkilometern, Schimpansen bringen es gerade mal auf 30 Stundenkilometer. Es ist die Anatomie, die das hohe Wurftempo bewirkt. Die Muskelkraft spielt nur eine Nebenrolle.

Zwei wichtige Unterschiede zum Schimpansen: Die menschliche Hüfte ist breiter und flexibler gebaut und gestattet daher eine freiere Bewegung des Oberkörpers. Während die Schultern bei Schimpansen relativ hoch sitzen und dadurch das Ausholen behindern, verfügen wir über einen tiefer liegenden, breiteren Schultergürtel, der durch seine extreme Beweglichkeit wie fürs Werfen geschaffen scheint. Fossile Skelettfunde legen nahe, dass die entscheidende Biomechanik für das kräftige Werfen des Menschen vor etwa zwei Millionen Jahren entstanden ist.

"Die Sehnen, Bänder und Muskeln der hochflexiblen menschlichen Schulter speichern beim Ausholen mit dem Arm elastische Energie", erklärt Roach. "Ähnlich wie ein Gummiband, das gedehnt wird." Diese Energie werde beim Werfen zusätzlich entladen und sei für die Beschleunigung entscheidend: Die Schulter ist ein effektives Katapult. Der Sportmediziner und Chirurg Pierre Hofer aus St. Gallen sieht das ähnlich. Hofer ist Mannschaftsarzt des Handball-klubs St. Otmar St. Gallen. "Bei jedem Wurf kann man beobachten, wie die Wucht aus dem Oberkörper generiert wird", sagt er.

Wenig Schutz

Die enorme Beweglichkeit des menschlichen Schultergelenks sei jedoch nicht nur ihr großer Vorteil, betont der Mediziner, der pro Jahr bis zu 300 Schulteroperationen durchführt. Sie mache die Schulter auch sehr verletzungsanfällig, "Der kugelförmige Oberarmkopf ist beim Menschen im Verhältnis zur Gelenkpfanne deutlich zu groß", erklärt Hofer. Die Schulter werde daher - anders als etwa das Hüftgelenk - fast ausschließlich durch die sie umgebenden Muskeln, Sehnen, Bänder und Kapseln stabilisiert. Das biete gegen Fehlbelastungen und Erschütterungen nur wenig Schutz.

Genauer betrachtet besteht unser Schultergelenk aus fünf verschiedenen Gelenken, die von dutzenden Muskeln, Sehnen, Bändern und Schleimbeuteln umgeben sind. Wird das komplexe Zusammenspiel beeinträchtigt, nimmt die Beweglichkeit rasch ab, und es kann zu Schmerzen kommen. Die Auslöser sind vielfältig: Sehnen- und Muskelverletzungen oder Knochenbrüche durch Unfälle zählen ebenso dazu wie Abnutzungserscheinungen oder Entzündungen des Gewebes. Nicht zuletzt sind auch Bequemlichkeit und eine schlechte Körperhaltung Risikofaktoren.

Physiotherapeuten wie Marcel Enzler von der Uni-Klinik Balgrist in Zürich können ein Lied davon singen. "Oft fragen mich besorgte Patienten, welche Sportarten ich zur Vorbeugung von Schulterproblemen empfehlen kann", sagt Enzler. "Ich antworte dann immer: "Eigentlich ist die Sportart egal. Hauptsache, Sie bewegen sich überhaupt." Eine Vielzahl von Schulterproblemen entstehe nämlich durch zu wenig Bewegung und einseitige Beanspruchung, wie etwa bei der täglichen Arbeit am Computerbildschirm, sagt Enzler. Dabei verhärten und verkürzen sich die Muskeln im Bereich des Schultergürtels oft immer stärker. "Schließlich braucht es nicht mehr viel, und es kommt zu einer Gelenkentzündung."

Muskelaufbau als Therapie

Schon eine simple Schleimbeutelentzündung (Bursitis) führt zu Reaktionen. In der Folge rufen kleinste Bewegungen stechende Schmerzen hervor, Schulterengpass-Syndrom lautet die Diagnose. Als erste Maßnahme empfiehlt Physiotherapeut Enzler dann, das Gelenk zu schonen. "Das Gewebe ist überreizt, zusätzliche Bewegung würde den Zustand verschlimmern."

Vor einer totalen Ruhigstellung über einen längeren Zeitraum hinweg warnt er. "Das Schultergelenk neigt zu Versteifung. Es rostet schneller ein als etwa das Hüftgelenk." Und ist es in seiner Beweglichkeit eingeschränkt, hat man im Alltag Probleme. "Manche Patienten können sich nicht einmal mehr die Zähne putzen." Viele finden nachts wegen der Schmerzen keinen Schlaf.

Vor jeder Therapie gilt es die Ursache für die Beschwerden zu ermitteln, sagt der Sportmediziner und Chirurg Pierre Hofer aus St. Gallen. Oft komme dann der Physiotherapie eine Schlüsselfunktion zu: Beweglichkeit wiederherzustellen sowie Muskelkraft wieder aufzubauen sind die primären Ziele. "Von ärztlicher Seite können unterstützend entzündungshemmende Schmerzmittel verordnet werden", sagt Hofer, bei starken Schmerzen helfen manchmal Kortisonspritzen.

Was tun, damit es erst gar nicht so weit kommt? "Die ideale Prävention von Schulterschmerzen ist ein kontrolliertes, regelmäßiges Kräftigungstraining in einem Fitnesscenter", sagt der der Sportmediziner. "Eine gut trainierte Muskulatur schützt vor Schulterbeschwerden." Dann könne man weiterhin so schwungvoll werfen wie unsere Ururahnen vor zwei Millionen Jahren bei der Jagd. (Till Hein, DER STANDARD, 5.11.2013)