Agenten, die sich auf die Lauer legen, gegnerische Ziele beobachten, Leute verfolgen, in Gebäude einbrechen und versuchen neue Informationsquellen zu erschließen – seit Jahrhunderten hat sich die Arbeit, die die meisten Geheimdienste betreiben, nicht geändert.

Nicht so bei der National Security Agency (NSA). Der US-Geheimdienst wurde in den frühen 1950er-Jahren vom amerikanischen Verteidigungsministerium gegründet, um feindliche Kommunikation abzuhören und Verschlüsselungen zu knacken. Doch mit der Verbreitung von Computern in praktisch jedem Haushalt und Smartphones und Tablet-Computer als ständige Begleiter entwickelte sich aus dem kleinem, obskuren US-Nachrichtendienst der mächtigste Geheimdienst der Welt. Mit 35.000 Mitarbeitern und einem Jahresbudget von über zehn Milliarden Dollar ist die NSA größer als alle vergleichbaren Einheiten der westlichen Welt zusammengenommen. Die Analysten, Mathematiker und Computerspezialisten saugen Milliarden von Datensätzen aus Fiberglaskabeln in der ganzen Welt, fangen drahtlose Kommunikation durch weltweite Horchposten ab oder zapfen Knotenpunkte des Internets an.

Wie umfangreich die Aktivitäten des US-Geheimdienstes wirklich sind, belegen Dokumente, die die britische Tageszeitung "Guardian" vom Exagenten Edward Snowden, der nun in Russland lebt, erhielt und am Wochenende von der "New York Times" veröffentlicht wurden.

Ein weißer Kasten auf dem Dach der US-Botschaft in Wien veranlasste das Nachrichtenmagazin "Profil" zu spekulieren, dass sich hinter dem Verbau Spionageausrüstung der NSA verstecken könnte.

Verteidigt wurde die Sammelwut der im geheimen agierenden Organisation oft mit dem Kampf gegen den Terrorismus, der vor der Privatsphäre anderer Vorrang habe. Doch der Inhalt der Dokumente legt nahe, dass es sich bei dieser Begründung nur um ein vorgeschobenes Argument handelt, das die schier grenzenlose Agenda der NSA verdecken soll. Die Dokumente enthüllen eine Kaskade an Abhörprogrammen, die in ihrem Umfang bisher kaum vorstellbar waren.

So speichert die NSA in ihrer Dishfire-Datenbank Textnachrichten aus der ganzen Welt über Jahre hinweg – nur für den Fall, dass sie eines Tages benötigt werden könnten. Die Sammlung mit dem Namen "Trafkin" speichert Milliarden an Datensätzen von Kreditkartentransaktionen weltweit. Sie zeigen, wie US-Marineschiffe, die vor der Küste Chinas kreuzten, Funkübertragungen aus dem Reich der Mitte abfingen. Satellitenschüsseln, die im US-Bundesstaat Maryland globale Banktransaktionen durchleuchten, und Antennen, die auf Dächern von 80 amerikanischen Botschaften und Konsulaten weltweit angebracht sind, um so viel Kommunikation wie möglich abzufangen und zu entschlüsseln.

Hilfsorganisation als Ziel

Dabei geraten nicht immer nur Spitzenpolitiker wie Angela Merkel, Militante in Afghanistan oder Kommunikationsflüsse aus dem US-feindlich gesinnten Iran ins Visier der NSA. Laut einem Dokument aus dem Jahr 2009 sammelte der US-Geheimdienst Kontaktdaten von 117 ausgewählten Konsumenten des somalischen Internetproviders Globalsom. Zwar finden sich auf der Liste durchaus Namen, die mit militantem Islamismus in Verbindung gebracht werden können. Doch ebenso sind Adressen von UN-Mitarbeitern und Vertretern der Hilfsorganisation World Vision angeführt. Die Dokumente legen nahe, dass jeder, egal ob von ihm potenzielle Gefahr ausgehe oder nicht, legitimes Ziel für die NSA zu sein scheint.

Die von der "New York Times" veröffentlichten Dokumente sind nur ein kleiner Auszug aus den insgesamt 50.000 Schriftstücken und Power-Point-Folien aus den Jahren 2007 bis 2012, die Snowden dem Journalisten Glenn Greenwald übergab.

Unter Beobachtung: Irans Staatsoberhaupt Ayatollah Ali Khamenei. (Foto: REUTERS/Khamenei.ir/Handout)

Darin ist unter anderem zu lesen, dass der US-Geheimdienst im Mai 2009 erfuhr, dass Irans Staatsoberhaupt Ayatollah Ali Khamenei einen Besuch der kurdischen Gebiete im Iran plante. Ohne Zögern entschloss sich die NSA, eine großangelegte Abhöroperation zu starten. Das NSA-Team beobachtete die Entourage des Ayatollahs, wie viele Fahrzeuge und Waffen sie mitführten, sie hörten den Funkverkehr der Piloten ab und die Mitarbeiter, die versuchten einen Kran zu finden, um die Ambulanzfahrzeuge zu entladen. Die Operation zeigt, dass es nicht immer Ziel der Tech-Spione ist, einzelne Politiker oder Personen abzuhören, sondern vielmehr Erkenntnisse über Kommunikationswege zu erhalten, die im Krisenfall wertvoll sein können.

Spionage gegen Spione

Doch die NSA beschränkt sich nicht nur auf das passive Abhören von potenziellen Zielen, sondern bricht aktiv in Computer ein, um daraus Daten zu erhalten. Im Bürokraten-Englisch nennt der US-Geheimdienst das "Tailored Access Operations" – eine Methode, die laut den Snowden-Dokumenten immer wichtiger für den US-Geheimdienst wird, weil damit die aufwändige Entschlüsselung entfällt, da die Botschaften schon beim Eintippen abgefangen werden können. In Bagdad wurden so die E-Mails der Anführer der Gruppe "Islamischer Staat im Irak" – ein brutal agierender Ableger der Al-Kaida – abgefangen und gelesen. Durch ein Programm namens Spinaltap identifizierte die NSA Computer der Hisbollah und konnte so die Nachrichten, die sich die Mitglieder untereinander schickten, direkt abfangen, anstatt sie aus einem Meer von Datensätzen filtern zu müssen.

Bei diesen Hacks kam es laut "New York Times" aber auch durchaus zu bizarr wirkenden Formen der Gegen-Gegenspionage: Im Jahr 2010 entdeckten Analysten der NSA verdächtige E-Mails, die an eine Regierungsstelle eines nicht näher genannten Landes geschickt wurden. Bald stellte sich heraus, dass die E-Mails von einem Alliierten der Vereinigten Staaten gesendet wurden. Die Verbündeten versuchte durch bösartige Software, die den E-Mails angehängt wurde, die Computer der Regierungsstelle des Landes zu infizieren. Die NSA beobachteten in aller Ruhe, wie die Hacker des befreundeten Geheimdienstes Dokumente und Passwörter des Landes abfingen. Durch diese Operation erlangten die Amerikaner nicht nur Zugang zu genau denselben Dokumenten und Passwörtern, sondern erhielten ebenfalls Erkenntnisse darüber, wie fortgeschritten der befreundete Geheimdienst agiert.

Drogen

Bei ihren Aktivitäten beschränkt sich die NSA nicht nur auf ausländische Regierungen, internationale Organisationen oder potenzielle Terroristen. Bei einer Antidrogenoperation Ende 2011 schien der Geheimdienst mehr über das weitverzweigte Netzwerk im Drogenhandel zu wissen als viele der beteiligten Drogendealer selbst.

Die Dokumente zeigen auch, wie die NSA nicht nur einzelne Mitglieder eines weltweit agierenden Drogenrings im Visier hatte, sondern das gesamte Netzwerk aus "Käufern, Lieferanten, Anbietern und Mittelsmännern" von den Niederlanden über Panama bis nach Kolumbien belauschte. Doch ob die abgehörte Kommunikation auch zu Verfahren und Festnahmen führte, verrät das Dokument nicht.

Versagen

Diese und viele weitere Beispiele legen nahe, dass die NSA ominpräsent und allwissend zu sein scheint. Doch nirgends wird das Versagen der Datensammelwut so deutlich wie in Afghanistan, einem Land, in dem der US-Geheimdienst so aktiv war wie in kaum einem anderen Gebiet.

Wie umfangreich die Arbeit der Agenten war, zeigt ein Bericht eines Horchpostens in Kandahar vom Juni 2011, der allein 15 Seiten benötigt, um die Arbeit eines einzelnen Tages der NSA in der Unruheprovinz zu beschreiben. Der Geheimdienst lauschte mit, als Mitglieder des Haqqani-Clans das Hotel Intercontinental in Kabul angriffen. Die NSA zeichnete jede Minute der Gespräche der Angreifer mit ihren Vorgesetzten auf und erfuhr so detaillierte Informationen über den Angriff. Verhindern konnte man den Angriff dadurch nicht.

Die Amerikaner hörten auch Gespräche zweier Mitarbeiter des afghanischen Außenministeriums ab, in denen es um die Vorbereitung von Treffen von Präsident Hamid Karzai mit Vertretern ausländischer Staaten ging. Doch Karzai blieb trotz dieser Information ein für die Amerikaner schwer einzuschätzender Partner.

Eine Ursache der Schwierigkeiten ist der Tatsache geschuldet, dass die NSA zwar offenbar die Fähigkeit hat, beinahe alles und jeden abzuhören, doch den Dokumenten zufolge offenbar große Schwierigkeiten hat, den Inhalt auch zu verwerten. So wurden 14 Spezialisten damit beauftragt, die militante pakistanische Gruppe Lashkar-e-Taiba, die für den Mumbai-Anschlag 2008 verantwortlich war, abzuhören. Doch ein Mitarbeiter schrieb in einer Geheimdienst-internen Wiki, dass der Großteil seiner Arbeit zwecklos sei, weil die NSA ohnehin zu wenig Linguisten hätte. "Das meiste war Arabisch oder Persisch, also kann ich damit nicht viel anfangen", schrieb der Geheimdienstler laut "New York Times".

Konsequenzen

James Clapper, Direktor der US-Nachrichtendienste, bei einer Anhörung vor dem US-Kongress Ende Oktober. (Foto: EPA / SHAWN THEW)

All diese Programme, das gesamte System der schier uferlosen Abhörung gerät durch die Enthüllungen von Edward Snowden gehörig ins Wanken. Konnte die 1952 gegründete Organisation bisher erfolgreich ohne viel Aufmerksamkeit und seit den Anschlägen des 11. September mit scheinbar grenzenlosen Geldmitteln ausgestattet arbeiten, müssen sich die Spitzenvertreter des Geheimdienstes nun unangenehme Fragen von Verbündeten, Kongressauschüssen und einer empörten Weltöffentlichkeit gefallen lassen.

Wenn die NSA nicht mehr länger unbemerkt agieren kann, stellt sich für die US-Regierung die Frage, ab wann das politische Risiko für Abhörmaßnahmen größer wird als der Erkenntnisgewinn der riskanten Operationen. (stb, derStandard.at, 4.11.2013)