Von "oben" aus betrachtet, blockiert Widerstand Entscheidungen und Maßnahmen. Von "unten" aus betrachtet, erhält Widerstand den Status quo, sagt Olaf Geramanis.

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STANDARD: Professor Geramanis, der Umgang mit Gruppen erweist sich in der Praxis oft als alles andere als einfach. Warum ist das so?

Geramanis: Weil Gruppen komplexe soziale Systeme sind. Darin unterscheiden sie sich grundsätzlich von sogenannten trivialen Systemen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie linear im Sinne einer Input-Output-Logik funktionieren. Diese Logik beinhaltet zugleich die Idee der identischen Wiederholbarkeit und Berechenbarkeit. Von Computerprogrammen erwarten wir, dass sie diesem trivialen Code folgen.

Im Gegensatz dazu müssen wir Gruppen als komplexe soziale Systeme begreifen. Stellen wir uns eine Gruppe von fünf Personen vor. Jedes Mitglied hat eigene Erwartungen, eine eigene Art, auf und in die Welt zu schauen, eigene Kommunikationsmuster und Regelsysteme, ohne dass all dies in einer Art den Personen selbst oder der Gesamtgruppe bewusst, sichtbar oder kommunizierbar ist. Was nichts anderes heißt, als einzusehen oder aus Vorgesetztensicht sich einzugestehen, dass jeder Versuch, Gruppen zu programmieren, aufgrund der hohen Komplexität scheitern muss.

STANDARD: Welche Konsequenz ergibt sich daraus für die Führungskraft?

Geramanis: Wer als Führungskraft an sich selbst die Erwartung hat, Handlungen und Entscheidungen von Gruppen programmieren oder zumindest präzise vorhersagen zu wollen, muss sich entweder aller Komplexität entledigen - dies wäre ein Befehl-und-Gehorsam-Modell - oder die Momente der Verzweiflung in Kauf nehmen, zu denen sich Gruppen plötzlich völlig unerwartet verhalten.

Gegen diese Verzweiflung hilft nur ein Perspektivenwechsel: weg von der Gruppenhydraulik hin zur Gruppendynamik. Wer akzeptiert, dass in Gruppen nicht das Missverstehen, der Konflikt oder die Unstimmigkeit erklärungsbedürftig sind, sondern die Harmonie, wird eine andere Haltung gegenüber Gruppen entwickeln. Und erkennen: Je einstimmiger und harmonischer Gruppen sind, desto eher sollte man in Zweifel geraten, ob sie noch am Leben sind!

STANDARD: Dann ist das, was in der Praxis als Widerstand einer Gruppe angesehen wird, in Wahrheit Ausdruck eines falschen Verständnisses von Gruppen?

Geramanis: So ist es. Unter Widerstand verstehen wir im Allgemeinen Formen diffuser Ablehnung, nicht unmittelbar nachvollziehbare Bedenken oder passives Verhalten Einzelner oder ganzer Gruppen. Durch diesen Widerstand werden Entscheidungen oder Maßnahmen, die eigentlich sinnvoll, logisch oder dringend notwendig erscheinen, unterlaufen.

Aus einer solchen Perspektive heraus ist Widerstand gar nicht gut. Schauen wir aber etwas genauer hin, dann wird das, was als Widerstand bezeichnet wird, meist aus der "mächtigeren" Vorgesetztenperspektive definiert. Diese gängigen Vorstellungen vom Widerstand vernebeln jedoch meist andersgeartete und tieferliegende Probleme, Interessenunterschiede und Divergenzen.

STANDARD: Welche?

Geramanis: Damit Teams, Projekt- und Arbeitsgruppen arbeitsfähig werden, brauchen sie nicht nur einen klaren Auftrag, sondern zusätzlich Zeit zur persönlichen Auseinandersetzung, um darüber eine gewisse Geschlossenheit zu erreichen. Wir kennen das aus Phasenmodellen wie von Tuckman als Forming, Storming, Norming, Performing. Wenn sich eine Gruppe gefunden hat und als Gruppe "performt", dann verfügt sie über eine Bewusstheit darüber, wie sie die Themen Führung, Entscheidung, Kooperation, Kommunikation und Umgang mit Konflikten intern handhabt. Die Gruppe muss nicht mehr von außen gesteuert werden, sondern hat über diese zentralen Themen eine eigene, selbstorganisierte Kultur entwickelt. Damit die Gruppe arbeitsfähig bleibt, muss sie in der Lage sein, sich diese Kultur zu bewahren und sich gegebenenfalls Veränderungszumutungen zu widersetzen, das heißt, sie sollte Widerständigkeit notwendigerweise kultivieren.

STANDARD: Vorgesetzte sollten in ihrem ureigenen Interesse begreifen ...

Geramanis: ... dass eine arbeitsfähige Gruppe eine Gruppe ist, die etwas kann, auch angesichts der überzeugendsten Versuche, sie vielleicht noch besser zu machen. Sie weigert sich daher, das loszulassen, was sie bereits kann. Erfolg bedeutet nicht zuletzt, sich entsprechenden Zumutungen gekonnt zu widersetzen.

Stetige Veränderungen sind keineswegs an sich positive Eigenschaften von Organisationen, Gruppen und ihren Mitgliedern. Aus dieser Perspektive ist Widerstand positiv, weil die Gruppe versucht, die eigene Integrität und Handlungsfreiheit aufrechtzuerhalten. Widerstand hat in diesem Sinne eine systemstabilisierende Funktion. Je größer die Veränderungszumutung an die Gruppe ist, weil man zwanzig Prozent höhere Leistungen erwartet, ein Gruppenmitglied austauschen oder gar zwei Gruppen fusionieren will, desto mehr wird die Gruppe in den Widerstand gehen. Insofern ist Widerstand der siamesische Zwilling jeglicher Veränderungen.

STANDARD: Was folgt daraus für den Umgang mit Gruppen?

Geramanis: Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst wichtig, zwei Sichtweisen zu unterscheiden, wie man auf Gruppen schauen kann. Die eine Sichtweise ist die Individuum-zentrierte, wonach eine Gruppe lediglich eine Anhäufung von Menschen ist und damit nicht mehr als die Summe ihrer Teile. Obgleich höchstwahrscheinlich jeder Vorgesetzte schon einmal davon gehört hat, dass es so etwas wie eine eigene Kraft der Gruppe gibt, wird diese Tatsache immer dann ignoriert, wenn Vorgesetzte auf das Individuum als Einzelwesen fokussieren: In einer Sitzung greift ein Gruppenmitglied die Führungskraft an, diese reagiert nicht, sondern weist nur kurz darauf hin, dass das Thema später "bilateral" gelöst wird. Ein Projektteam schließt einen Auftrag erfolgreich ab und wird anschließend mit individuellen Leistungsboni belohnt. Im Team fällt eine Person wegen Burnout aus und wird wenig später ersetzt.

Pflegen Vorgesetzte einen primär Individuum-zentrierten Ansatz, dann wird das Interaktionsgeschehen und die ihm zugrunde liegende Dynamik folgerichtig aus den individuellen Befindlichkeiten und persönlichen Bedürfnislagen der anwesenden Personen heraus (re)konstruiert: Der konkrete Störer hat ein Problem mit dem Chef, die Teammitglieder werden individuell wertgeschätzt, der Burnout-Patient war nicht leistungsstark genug.

STANDARD: Und die andere Sichtweise?

Geramanis: Die verlangt, zusätzlich die Prozesse der Gruppendynamik zu verstehen. Neben den beteiligten Personen und ihrem inhaltlichen Auftrag werden zusätzlich ihre sozialen Beziehungen innerhalb der Gruppe relevant. Dieses den Zusammenhang stiftende "dynamische Ganze", wie Kurt Lewin, Begründer der modernen experimentellen Sozialpsychologie, sagt, verlangt eine Abstraktionsleistung über das einzelne Individuum hinaus. Die Gruppe wird zu einem eigenen Sozialkörper, der gerade nicht mehr auf die Summe seiner Teile reduzierbar ist. Eine solche Sichtweise ist üblicherweise eher schwer zu erbringen, weil sie multikomplex ist.

Am besten stellt man sich ein großes Mobile vor, das sich trotz interner Unterschiedlichkeit gut ausbalanciert hat. Egal an welchem Punkt man eingreift, irgendwie werden alle anderen Teile in Bewegung kommen: Der Störer im Team ebenso wie der Burnout-Patient sind keine individuellen Einzelschicksale mehr, sondern werden zu Rollen- bzw. Symptomträgern für ein Thema, das die Gruppe als Ganzes bewegt. Der Störer signalisiert in der Rolle des Opponenten für alle, dass man sich in der Gruppe auch offen gegen den Chef stellen kann. Der Burnout-Patient ist für alle ein Zeichen dafür, dass den Letzten die Hunde beißen, das heißt, es herrscht die Kultur, dass immer das schwächste Mitglied geopfert oder als Sündenbock in die Wüste geschickt wird.

STANDARD: Wird dieses dynamische Ganze ignoriert, was dann?

Geramanis: Dann hat der Vorgesetzte ein Problem. Anders gesagt, zum Hampelmann der Gruppe wird man als Vorgesetzter zuverlässig immer dann, wenn man diese Kraft des Beziehungsgeschehens der Gruppe ignoriert, wenn man glaubt, ein einzelnes Mobileteil herausziehen zu können, und sich wundert, was sich alles mitbewegt. Gruppendynamik bezeichnet daher jegliche Beziehungsdynamik, die sich im Zusammenhang mit der Bildung, dem Fortbestand und dem Abschluss von Gruppen ergibt, und diese Kraft ist jederzeit vorhanden! Ganz gleich, welche Aufgabe eine Gruppe offiziell zu erfüllen hat, parallel dazu ist sie auf der Beziehungsebene ständigen Prozessen von Sympathie- und Antipathie-Bekundung, von Ausschluss und Integration von Außenseitern sowie von Einflussnahme von bzw. Widerstand gegenüber Autoritäten ausgesetzt. (Hartmut Volk, Management STANDARD, 2./3.11.2013)