Margit Schreiner, geb. 1953, ist Schriftstellerin. Werke u. a. "Mein erster Neger" (1990), "Haus, Frauen, Sex" (2004), "Die Tiere von Paris" (2011). Beiträger unserer Kurzgeschichtenserie waren bisher u. a. Clemens Setz, Josef Haslinger, Doron Rabinovici, Monika Helfer, Ilija Trojanow.

Foto: heribert corn

Mir war Annemarie zu dogmatisch. Wir alle waren damals Linke. Aber während uns politische Aktivitäten und die "Status Quo" durchaus miteinander vereinbar vorkamen, war Annemarie strikt gegen alle studentische Dekadenz. Deshalb wunderte ich mich dann, als ich im Nachruf für Annemarie und Norbert las, dass Annemarie ein "Luftmensch" gewesen sei. Für mich war sie ein Erdmensch, bis fast zu den Knien im Erdreich.

Sie stammte aus einer bürgerlichen Arztfamilie in Hessen. Ihre Familie nannte sie Hummelchen. Wenn sie in unserer Wohngemeinschaft in Salzburg zu Besuch war, ekelte sie sich. Ich würde lieber in einer Bananenkiste wohnen als in eurer Wohngemeinschaft, hat sie einmal gesagt und wahrscheinlich das Chaos gemeint, die Lieblosigkeit der Einrichtung, den Dreck und die riesigen Schüsseln, aus denen wir reihum unser Müsli aßen. Annemarie trug Markenkleidung und Schuhe mit hohen Absätzen. Wenn sie in Salzburg war, ging sie abends ins Konzert oder traf sich mit linken Intellektuellen, während wir in der verschmuddelten Küche unserer Wohngemeinschaft saßen und Haschisch rauchten.

Sie selbst war Kunstwissenschafterin und teilte in Hamburg eine 120-Quadratmeter-Wohnung mit einer Psychologin, die sich ein Kind ohne Mann wünschte. Soviel ich wusste, war Annemarie mit einem Kunstwissenschaftsprofessor der Uni Hamburg zusammen. Sie sprach nicht gerne über ihr Liebesleben.

Später, als ich die Wohngemeinschaft mit ihrem Chaos, der lieblosen Einrichtung, dem Dreck und den Gemeinschaftsschüsseln mit Müsli längst verlassen und in einer dreizehn Quadratmeter großen Garçonniere zu schreiben begonnen hatte, sagte sie oft zu mir, dass sie mich beneide. Die Kunstwissenschaft sei eben nicht wirklich kreativ. Sie hatte gerade ein Buch über die Frauenfiguren des Bildhauers Christoph Voll veröffentlicht, das in linken Kreisen sehr beachtet wurde.

Annemarie liebte schöne Dinge, und ich erinnere mich, dass in ihrer Wohnung in Hamburg eine Biedermeieröllampe stand, die, wenn sie brannte, ein seltsam mystisches hellblaues Licht verbreitete. Als die Psychologin tatsächlich ein Kind bekam, das sie allein aufziehen wollte, zog Annemarie aus der gemeinsamen Wohnung aus. Mit einem Baby in der Wohnung, sagte sie, könne kein Mensch wirklich arbeiten.

Bei der Einweihungsfeier ihrer neuen Wohnung in einem Hamburger Jugendstilhaus lernte ich dann einen Mann kennen, in den ich mich verliebte. Annemarie hatte großen Respekt vor ihm, weil er, nicht mehr ganz jung und ebenfalls Schriftsteller, das halbe Jahr in seinem Haus in Frankreich ohne Strom und Wasserleitung verbrachte, sich von niemandem etwas gefallen ließ, mit einer auffrisierten Honda die Gegend unsicher machte und trotzdem auf bürgerliche Formen Wert legte. Während ich von Anfang an unter dem cholerischen Charakter dieses Mannes litt, beneidete mich Annemarie schon wieder. Du hast jetzt einen richtigen Mann, sagte sie. Mir war ein Rätsel, was sie unter einem richtigen Mann verstehen mochte.

Nicht lange danach lernte sie Norbert kennen. Ich lebte damals schon in Paris und weiß noch, wie sie mich eines Nachts anrief und sagte, sie habe soeben den Mann ihres Lebens kennengelernt. Jude, Filmproduzent, drei Kinder aus erster Ehe, ebenfalls ein richtiger Mann. Sie trat aus der kommunistischen Partei aus. Als ich wenig später nach Hamburg fuhr, wo ich eine Lesung hatte, lernte ich Norbert kennen. Er sah gut aus, war groß und bevorzugte als Kleidung Jeans und blütenweiße Hemden. Zwischen den mittleren Vorderzähnen hatte er eine winzige Lücke, die ihn eine Spur lispeln ließ. Nur wenn er herzhaft lachte, sah man sie. Norbert wirkte jungenhaft, charmant, liebenswert. Wenn er mit seinem Hund Habibi spielte, einem dünnen Mischling mit langen Schlappohren, den er von einem Urlaub in Marokko mitgebracht hatte, war er so strahlend, vital und jung, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass er - laut Annemarie - ein beinharter Geschäftsmann sein sollte. Die andere Seite Norberts zeigte sich mir erst, als ich erfuhr, dass er Habibi im Winter im Hamburger Hafen ausgesetzt hatte.

Warum ausgesetzt?, fragte ich ihn.

Annemarie ist schwanger, sagte er.

Na und?

Habibi schleckt alles ab, was er findet, das Baby könnte krank werden.

Okay, aber warum denn aussetzen, dann hättest du ihn doch besser einschläfern lassen sollen.

Uns Juden, sagte Norbert, ist es verboten, Lebewesen zu töten.

Da sagte ich nichts mehr. Norberts Familie ist in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet worden.

Ich erinnere mich aber, dass Norbert in unserem Haus in Südfrankreich, wo uns die beiden im Sommer besuchten, spätabends nach reichlichem Weingenuss vom Sechstagekrieg in Israel erzählte, an dem er teilgenommen hatte: Für jeden toten Araber eine Kerbe im Gewehrkolben! Ich war damals sicher, dass er uns nur provozieren wollte.

In die Zeit, kurz nachdem Annemarie Norbert kennengelernt hatte, fiel die engste Phase unserer Freundschaft. Annemarie erzählte mir, dass sie eine Anzahl von Phobien entwickelt hätte. So hatte sie zum Beispiel panische Angst, NICHT in Ohnmacht fallen zu können. Rätselhafterweise fuhr sie deshalb nicht mehr Auto. Sie, die immer sehr praktisch veranlagt war, fühlte sich plötzlich außerstande, ohne Norbert nach Österreich zu kommen. Ich führte es auf ihre Schwangerschaft zurück. Auch ihre Stimmungsschwankungen. Manchmal weinte sie scheinbar grundlos am Telefon und sprach so leise, dass ich sie kaum verstand, dann wieder berichtete sie euphorisch davon, wie Norbert einen Schauspieler, der während der Produktion getrunken hatte, auf der Stelle entlassen und bereits am selben Tag einen Ersatz gefunden hatte, sodass die Dreharbeiten ohne Unterbrechung hätten weitergehen können. Einmal, als sie mich in Paris anrief, war im Hintergrund ein Höllenlärm zu hören. Norberts drei Söhne aus erster Ehe seien jedes zweite Wochenende bei ihnen, sagte Annemarie, und dürften sich bei ihrer Mutter, nachdem Norbert ausgezogen war, anscheinend alles erlauben. Auf einmal schrie sie in einer Lautstärke und Aggressivität, die ich ihr nie zugetraut hätte: Ruhe! Der Hintergrundlärm verstummte augenblicklich. Was gibt es noch zu sagen? Annemarie und Norbert lebten auf großem Fuß, aßen meistens teuer auswärts, fuhren zu den Filmfestspielen nach Cannes, heirateten.

Ich war bei der Hochzeit in Hamburg dabei. Und viele Menschen aus der Filmwelt. Ich erkannte nur Doris Dörrie und Armin Müller-Stahl. Es war ein deutsch-jüdisches Hochzeitsfest mit Gesang und Tanz. Während von jüdischer Seite Reigen aufgeführt wurden, bei denen wir mitklatschen, hatte die deutsche Familie Annemaries ein langes Gedicht über Annemaries verschiedene Lebensstationen vorbereitet. Ich erinnere mich, dass auf eine Leinwand Fotos gebeamt wurden. Annemarie mit Schnuller, Annemarie mit Maturakleidchen, Annemarie mit Doktorhut usw. Dazu in Reimform Anekdoten aus ihrem Leben. Am Ende jedes Lebensabschnittes kam ein Refrain in der Art: Na und? Was jetzt? Bis schließlich ein Foto von Norbert und Annemarie auf dem Standesamt auf die Leinwand gebeamt wurde. Annemarie war da hochschwanger.

Kurze Zeit später war ich auch fast bei der Geburt Yaels dabei. Als ich in der wunderschönen Wohnung in Hamburg ankam - Fenster bis zum Boden, Blick auf die Elbe und auf eine Kirche, der Nachbar war Wolf Biermann - hatte Annemarie bereits die Wehen. Sie wollte zu Hause gebären. Ich lernte Norberts Söhne aus erster Ehe kennen. Ich weiß noch, er ließ sie antreten wie die Orgelpfeifen: der Größe nach. Simon, Ezra, Aahron, in absteigender Linie. Sie alle trugen Bluejeans und blütenweiße Hemden. Ich wunderte mich über ihre Disziplin. Sie schienen auf Zehenspitzen durch die Wohnung zu schleichen und halfen Annemarie, die trotz stärker werdender Wehen für uns alle Spaghetti kochte (zur Ablenkung, sagte sie). Nach dem Essen sahen sie sich mit uns einen Film mit Hans Moser an. Annemaries Wehen wurden stärker. Von Zeit zu Zeit zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, wo sie bei abgedunkeltem Fenster und einer CD mit dem Gemurmel Dalai Lamas meditierte. Dann sahen wir noch den Film Cabaret, bei dem Norbert Co-Produzent gewesen war. Aahron massierte Annemarie dabei den Nacken. Ihre Wehen wurden noch stärker. Zwischendurch war immer wieder die Hebamme angerufen worden, die jedoch nach Schilderung der Zeitabstände zwischen den Wehen davon sprach, dass es noch längst nicht so weit sei. Irgendwann in den frühen Morgenstunden fuhr Norbert mit Annemarie ins Krankenhaus, wo sie am nächsten Nachmittag Yael gebar. Da war ich schon auf dem Rückweg nach Paris.

Wir hatten dann eine Zeitlang nur noch telefonischen Kontakt, ich wurde auch schwanger, meine Tochter wurde geboren, wir übersiedelten von Paris nach Berlin, vieles veränderte sich.

Von Norbert, der Kommunalpolitiker der SPD in Hamburg war, las ich in der Zeitung, dass er sich gegen die Verbauung eines ehemaligen jüdischen Friedhofs durch eine Supermarktkette eingesetzt hatte und deshalb Schwierigkeiten bekam. Er sei aus einer Demonstration zur Erhaltung des Friedhofs ausgebrochen, nachdem er einen älteren Deutschen am Rande der Demo stehen gesehen und sagen gehört hatte: "So sind die Juden. Sie wollen aus allem Geld machen. Selbst aus ihren Toten." Norbert hatte den Mann ins Gesicht geschlagen. Annemarie berichtete telefonisch über Mobbing seiner Kinder in der Schule. Besonders Aahron kam in der Schule nicht mehr zurecht und brach sie irgendwann ab. Norbert begann sich in Hamburg verfolgt zu fühlen. Er wurde religiös. Bevor wir bei meinem letzten Besuch in Hamburg zu Abend aßen, segnete er auf Hebräisch das Brot. Annemarie ebenfalls.

Tom wurde geboren - diesmal zu Hause. Annemarie schickte regelmäßig Pakete für meine Tochter mit Kleidern, aus denen Yael herausgewachsen war, immer Markenwaren. Einmal war ein Prinzessinnenkleid aus Norberts Filmarchiv dabei, das meine Tochter am liebsten gar nicht mehr ausgezogen hätte: pfirsichfarbener Tüll mit aufgenähten rosa Tüllröschen und aufgestickten weißen Perlen. Die Ankunft jedes Pakets war ein Fest für uns.

Norbert machte den Flugschein und beteiligte sich am Restaurant Silberstein neben der großen Synagoge in Berlin, wohin er wöchentlich einmal mit eigenem Flugzeug flog. Ich traf ihn öfter im Silberstein, wo er mich stets einlud. Er war dicker geworden, besonders im Gesicht - ein wenig aufgedunsen vielleicht. Selten lächelte er so charmant wie früher. Er machte sich Sorgen um Aahron, der angeblich auf der Straße lebte, Drogen nahm und keinen Kontakt mit Norbert wollte.

"Er war immer hochbegabt", sagte Norbert, "und hat Gedichte geschrieben. Die Schweine haben ihn fertiggemacht." Wen genau er mit den Schweinen meinte, weiß ich nicht, ich nehme an, die Nazis. Norbert fühlte sich mit der Zeit auch in Berlin bedroht.

Nur einmal flog Annemarie mit Norbert und ihren beiden Kinder mit nach Berlin und besuchte mich, während Norbert seine Geschäfte erledigte. Yael war da bereits sechs oder sieben Jahre alt und so schön, dass ich sie vermutlich die ganze Zeit anstarrte. Im Gegensatz zu Annemarie war sie sehr zart, hatte große schwarze Augen mit dichten dunklen Wimpern und ein so klar konturiertes, ernstes Gesicht, wie Sechsjährige es normalerweise nicht haben. Tom hingegen wirkte ein wenig ungeschickt, ließ ständig etwas fallen, zog die Tischdecke mitsamt den Kaffeetassen vom Tisch und konnte mit drei Jahren noch nicht sprechen, sodass ich mich fragte, ob vielleicht irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Aber Annemarie ging so unbekümmert mit ihm um, dass ich den Gedanken wieder verwarf. Yael und meine Tochter, die zwei Jahre jünger war, gingen immer zusammen ins Kinderzimmer, wo sie lautlos miteinander spielten. Tom wankte hinterher.

Annemarie machte sich Sorgen um Norberts seelischen Zustand. Sie sagte, er habe sich sehr verändert, schlafe keine Nacht mehr durch und sei tagsüber fahrig und unkonzentriert. Wenn sie für ihn unerwartet nach Hause käme, schrecke er zusammen. Oft stehe er lange am Fenster und schaue auf die Elbe.

Irgendwann stand seine Filmfirma vor dem Bankrott. Irgendwann musste er seine Anteile am Silberstein verkaufen, irgendwann wanderte die Familie nach Israel aus, wo sie in der Altstadt von Jerusalem ein großes Haus kauften. Woher sie nach dem Bankrott das Geld hatten, war mir schleierhaft. Norbert, der sich in Israel fortan Abraham nannte, betrieb auch bald nach seiner Auswanderung sehr erfolgreich eine In-Nachtbar, die hauptsächlich von Jugendlichen besucht wurde, Annemarie hatte vor, eine Designergalerie eröffnen. Wir haben oft davon gesprochen, sie einmal in Israel zu besuchen. Aber es wurde nie etwas daraus. Wahrscheinlich hatte ich Angst, mit meiner fünfjährigen Tochter in eine Stadt zu fahren, über die damals beinahe täglich im Fernsehen im Zusammenhang mit Attentaten berichtet wurde. Von Annemarie wusste ich, dass Norberts ältere Söhne ebenfalls nach Israel gezogen und dort in die Armee eingetreten waren. Vor den Schulen und vor Toms Kindergarten, erfuhr ich von Annemarie am Telefon, sei Stacheldrahtzaun, und die Eltern bewachten das Gelände jeweils abwechselnd mit Funkgeräten.

Es gebe ständig Bombenanschläge. Norbert habe sich bei der Polizei gemeldet und fahre nachts allein mit Blaulicht durch Jerusalem, um nach dem Rechten zu sehen. Er sei immer bewaffnet. Außerdem habe er Aahron, das Sorgenkind der Familie, nach Israel geholt, um ihn von den Drogen wegzubekommen. Annemaries Berichte wurden seltener. Norbert sei depressiv, sagte Annemarie einmal, er trinke viel zu viel Kaffee (drei Liter pro Tag), um überhaupt noch arbeiten zu können. Er fürchte ständig, von einem arabischen Selbstmordattentäter in die Luft gejagt zu werden, und schlafe nachts mit seiner Pistole unter dem Kopfpolster. Einmal rief sie mich spät abends an und sagte, sie sei inzwischen überzeugt, mit Norbert nicht alt werden zu können. Sie überlege immer wieder die Rückkehr nach Deutschland. Schließlich kündigte sie mir an, mir einen von ihr verfassten autobiografischen Text zu schicken. Als ich den Text las, war ich entsetzt. Annemarie schien sich eine Kindheit und Jugend zurückzuerträumen.

Eine große Rolle in dem Text spielte ihr ehemaliger Kunstwissenschaftsprofessor, mit dem sie, wie sie schrieb, glücklich geworden wäre, wenn sie nicht Norbert kennengelernt hätte. Alles in dem Text war auf eine gespenstische Weise verklärt. Der alte ungarische Vater, der längst gestorben war und so charmant gewesen sei (In Studentenzeiten hatte sie ihn als faul und schmierig bezeichnet), die starken Frauen in der Familie - alles tüchtige Ärztinnen -, die für den Lebensunterhalt gesorgt hätten (Früher hatte sie erzählt, ihre Schwester, eine Zahnärztin, fahre mit riesigen Hüten und wallenden Kleidern mit dem Fahrrad durch das hessische Kaff und werde von den Kinder des Ortes verspottet), die Psychologin, die so mutig gewesen war, sich ein Kind ohne Mann zu wünschen. Sogar die ehemalige Wohngemeinschaft in Salzburg war auf einmal eine "gelebte Utopie". Was die Zukunft betraf, blieb der Text vage. Sie müsse aus Israel weg, schrieb sie, aber ihre Kinder seien inzwischen richtige Israelis geworden und würden sich wohl in Deutschland nicht mehr zurechtfinden. Sie selbst wahrscheinlich auch nicht, und schließlich käme sie sich als Verräterin vor, würde sie das Land jetzt verlassen. Aber irgendetwas müsse geschehen. In einem beigefügten Billet lud sie mich zu einer verspäteten fünfzigsten Geburtstagsfeier nach Jerusalem ein, die sie groß anlegen wollte. Ich schrieb zurück, dass ich kommen würde. Dazu kam es aber dann nicht mehr.

Die Todesanzeige, von Annemaries deutscher Familie verfasst, war so kryptisch, dass daraus nicht hervorging, was eigentlich passiert war. Annemarie habe für ihre Familie bis zum Schluss gekämpft, stand da, bis Norbert und sie durch ein tragisches Geschehen ihr Leben verloren hätten. Ich dachte an ein Bombenattentat. Im Anhang der Todesanzeige stand ein Aufruf zur Unterstützung des Förderereins "Waisen in Israel" plus Spendenkonto. Das Begräbnis war da schon vorbei. Nach langer Suche fand ich schließlich im Internet einen Bericht, den ich auszugsweise wiedergebe:

"Sohn ermordet Vater und Mutter"

von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 13. September 2002

"Komm schnell, mein Sohn hat die Krise. Er halluziniert wegen der Drogen", schrie Abraham Friedländer einem Polizisten zu. Das waren seine letzten Worte. Dessen 23 Jahre alter Sohn, Aahron, riss vor den Augen des herbeigeeilten Polizisten und seinen jüngeren Halbgeschwistern wieder das Messer hoch und stach auf seinen Vater ein. Als der schon in einer Blutlache im Sterben lag, zog der Polizist seine Dienstpistole und erschoss den jungen Mörder. Einige Kugeln könnten auch den sterbenden Abraham Friedländer getroffen haben, hieß es später bei der Polizei.

Die grausame Szene war nur das blutige Ende eines Familiendramas in der Jerusalemer Agrippas- Straße nahe dem Gemüsemarkt Mahane Jehuda. Am Donnerstagnachmittag drangen grelle Schreie aus dem Haus in der ruhigen Nebengasse. Neben den Eltern Annemarie (51) und Abraham Friedländer (55) hielten sich auch deren 11 und 14 Jahre alten Kinder auf. Aahron Friedländer (23), der Sohn aus erster Ehe Abrahams, stritt sich lautstark mit seinem Vater. Sie traten auf die Straße und schrien sich weiter an. "Wir verstanden kein Wort, denn sie sprachen Deutsch", sagten später Nachbarn. Ohne zu wissen, worum es ging, riefen sie die Polizei, als die Lage immer ernster zu werden schien. Nachbar Mosche Cohen: "Die ganze Straße hörte sie, und keiner verstand, worum es überhaupt ging."

Als ein Polizist auftauchte, stand Abraham noch vor der Haustür und rief: "Mein Sohn hat Halluzinationen wegen der Drogen." In diesem Augenblick drang ein markerschütternder Todesschrei aus dem Innern des Hauses. Abraham lief hinein. Aahron ermordete gerade seine Stiefmutter Annemarie. Aahron hockte über der Frau, stach blindlings auf sie ein und schlitzte ihre Halsschlagader auf. Blut spritzte in alle Richtungen. Abraham eilte herbei. Er wollte seiner Frau helfen. Doch da erhob sich Aahron von dem ausblutenden Körper seiner Stiefmutter. Mit gezücktem Messer lief er auf Abraham zu. Der Vater versuchte zu entkommen. Doch Aahron erreichte ihn im Salon und stach ihn ganz tief in den Rücken. Abraham stürzte und starb vor den Augen des Polizisten. Der Polizist erschoss kurzerhand den 23-Jährigen, der bei der Jerusalemer Lokalzeitung "Kol Ha'ir" als Fotomodell gearbeitet hatte. Eine Aufnahme Aahrons mit nacktem Oberkörper schmückte die ganzseitigen Zeitungsberichte. (Margit Schreiner, Album, DER STANDARD, 2./3.11.2013)