Impressionen einer Testfahrt.

Markus Bernath
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Stromausfall, Türen klemmen, Zugverkehr stockt. Gut, das kann passieren am ersten Tag. Kleine Kinderkrankheiten, am späten Vormittag schon wieder behoben. Ein Print-out hängt am Eingang zur Marmaray-Linie in Üsküdar: Zug kann heute nicht in Sirkeci halten. Aha. Das war eigentlich Sinn der ganzen Übung – einmal unter den Bosporus durchfahren, von Üsküdar auf der asiatischen Seite Istanbuls zum Bahnhof Sirkeci auf der europäischen. Vier Minuten, wie versprochen vom "Büyük Usta" (BU), dem "großen Meister" Erdogan.

Stattdessen geht es nun gleich weiter nach Yenikapi, der vorläufigen Endstation. Die Sirkeci-Station ist offenbar noch nicht fertig, und 33 weitere der insgesamt 37 Marmaray-Stationen sind es auch noch nicht. Es hat etwas pressiert am Ende, aber nach neun Jahren Bauzeit und vielen Überraschungen war das Wesentliche zum Tag der Republik am 29. Oktober, Schlag 15 Uhr, doch fertig: der Tunnel, 1,387 Kilometer lang und schräg über dem Seeboden, 56 Meter tief, nicht über die kürzeste Distanz von Üsküdar nach Beşiktaş.

Alle zehn Minuten kommen Fahrgäste auf der Rolltreppe hoch und stolpern aus dem Zugang zur Marmaray-Linie in Üsküdar, blinzeln in die Sonne, lächeln erleichtert. Manche geben die gelungene Bosporus-Unterquerung per Telefon durch, andere versuchen sich kurz zurechtzufinden. Es ist Volksbesichtigung, Tag der offenen Tür, und zwar 15 Tage lang. So hat das BU Erdogan bei der gestrigen Eröffnungsfeier sozusagen par ordre de mufti erlassen: 15 Tage dürfen die Istanbuler umsonst auf der neuen Linie fahren. Kostenpunkt danach: 1,95 Lira, derzeit 71 Euro-Cent.

Der erste Vormittag nach der Eröffnung gehört definitiv den älteren Herrensemestern. Familienväter und Großväter erkunden die Lage, manchmal ist auch die Frau dabei. Die Üsküdar-Station ist groß und tief, der Bahnsteig besonders breit. Klopftest an den blauen Fliesen: verdächtig hohl und verschieden laut. Das wird also nicht lang halten. Im Tunnelausgang, wo gleich der Zug auftauchen muss, hängt, was man auch beim besten Willen als Staubwolke bezeichnen muss. An Rauch darf man jetzt gar nicht denken. Es gibt keine Sicherheitssysteme, behaupten Ingenieure, die an früheren Phasen des Marmaray-Projekts beteiligt waren, kein ATC, ATP, ATO, ATS (verschiedene international standardisierte Steuerungssysteme für Züge), keine Vorkehrungen gegen denkbare Terroranschläge, keinen realistischen Evakuierungsplan im Brandfall. "Wenn im Marmaray ein Feuer ausbricht, stirbt jeder an Vergiftung", gab ein Testingenieur der Tageszeitung "Bir Gün" zur Protokoll. Er würde nicht einsteigen, riet er.

Trotzdem sind wir jetzt drinnen im Wagon. Es ist zu warm, es riecht nach neuem Kunststoff, und dann geht es los, hinunter unter den Bosporus, 18 Prozent Gefälle. Draußen flitzen die Neonlichter an den Betonwänden vorbei, die Tunnelröhre scheint nicht sonderlich groß – sieben Meter im Durchmesser sind es -, drinnen im Wagen geht es eher leise zu. Man schaut sich an, schaut durchs Fenster, glaubt die Tonnen Wasser zu fühlen, einen kleinen Druck auf den Ohren. Dann wird der Zug langsamer und fährt hoch in die Station Sirkeci, wo man jetzt nicht aussteigen darf. Europa erreicht. Alles gut.

9,3 Milliarden Lira – oder 3,8 Milliarden Euro vor dem Kurssturz der Lira im vergangenen Sommer – könnte das Jahrhundertprojekt am Ende offiziell kosten, finanziert von der European Investment Bank (EIB), der Entwicklungsbank des Europarats (CEB) und vor allem der Japanischen Bank für Internationale Zusammenarbeit (JBIC). Nach dem Ausstieg des türkisch-französisch-japanischen Konsortiums Alstom-Doğuş-Marubeni im Jahr 2010, die für einen Teil des Projekts außerhalb des Bosporus-Tunnels zuständig waren, erhielten die spanische OHL und Invensys-Rail-Dimetronics den Zuschlag und durften sich weiter mit der Station Yenikapi plagen, wo Überreste des Hafens aus der Zeit des byzantinischen Kaisers Theodosius I (379-395 n.Chr.) aufgetaucht waren, sehr zum Ungemach von BU Erdogan.

Replika von einigen der Funde sind nun in der Station Yenikapi ausgestellt. Ein "Archäologiepark“ soll als Museum außerhalb der Station entstehen.

Verkehrstechnisch ist der Bosporus-Tunnel ein Durchbruch, sagt der Istanbuler Stadtplaner Erhan Demirdizen. Bisher war die Logik immer, neue Autobrücken zu bauen (die dritte über den Bosporus soll 2015 fertig sein), was nur zu mehr Immobilienspekulation, mehr Wohnungsbauten und Büros, mehr Straßen und folglich mehr Verkehr geführt hat. Mit ihrer Beförderungskapazität von einmal 75.000 Passagieren in der Stunde und in jeder Richtung ersetze die Marmaray-Linie 15 bis 20 Brücken über den Bosporus, glaubt der Stadtplaner.

Und was passiert mit den Fähren? "Ich glaube nicht, dass die Nachfrage nach den Fährschiffen zwischen Üsküdar, Beşiktaş und Kadiköy drastisch zurückgeht", sagt Demirdizen. "Fahrgäste, die diese Schiffe benutzen, pendeln gewöhnlich zu diesen Endpunkten oder anderen nahegelegenen Zielen. Marmaray wird die weiter entfernten Teile Istanbuls miteinander verbinden." 76 Kilometer werden es am Ende sein, von Gebze am Ostrand Istanbuls nach Halkali, weit im europäischen Westteil. (Markus Bernath, derStandard.at, 31.10.2013)