Win Buttler (Mitte) und Arcade Fire aus Kanada gehen dem Leben auf den Grund.

Foto: Korey Richey

Wien - Das Debütalbum Funeral zählte 2004 zum Aufregendsten, das der Indie-Pop zu bieten hatte. Vor allem auch live stellte die kanadische Band Arcade Fire um das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne unter Beweis, dass der heilige Ernst einer Heilsarmeekapelle in Verbindung mit weltlicher Hymnik so gut wie die ganze Kollegenschaft im "Alternative Mainstream" wegblasen konnte.

Zum einen basierte die Wucht, mit der Sänger Win Butler und seine Leute von Montreal aus über die Welt kamen, natürlich auf dem alten Missverständnis, Rock 'n' Roll habe etwas mit Wahrhaftigkeit zu tun. In jeder Religion aber - und zu diesen gehören auch Ersatzreligionen - ist die Aufführungspraxis mindestens ebenso wichtig wie die verbreitete Lehre.

Authentizität und die Begriffe des Wahren, der Dringlichkeit, der göttlichen Sendung, der aus der Einsamkeit und Verzweiflung heraus gesuchten Gemeinschaft mit Gleichgesinnten sind immer schon auch reines Handwerkszeug gewesen. Arcade Fire haben das auf dem bezeichnenderweise Neon Bible betitelten zweiten Album von 2007 sehr früh erkannt. 2010, auf ihrem Konzeptalbum The Suburbs, das exakt diesen Spannungsbogen untersuchte, haben Arcade Fire diese Technik perfektioniert.

Allerdings ist der alte Brustton der Überzeugung, der Win Butlers Gesang noch immer kennzeichnet, jetzt auf dem opulenten und im Netz wie Weihnachten und Auferstehung Christi gleichzeitig gefeierten Doppelalbum Reflektor einer nicht unerheblichen Selbstironie gewichen.

Das mag daran liegen, dass man sich als Produzenten der 13 Songs James Murphy holte, das in Frühpension gegangene Mastermind des voll auf die Zwölf gehenden New Yorker LCD Soundsystem. Murphy kommt eher von intellektuell unterfütterter Disco und dem konzeptuellen Funk der Talking Heads in David Byrnes hedonistischer Multineurotik während der Remain-In-Light-Phase her. Er singt nicht so gern erhebende Kirchenlieder. Murphy ist froh, dass er nach Jahren endlich aus dem Sofa im Club hochgekommen ist.

Aber auch in Win Butlers Dienst an der Gemeinde haben sich ungläubige Zweifel und Ironie eingeschlichen. Im Song Normal Person etwa heißt es zu Beginn: "Do you like rock 'n' roll music? Because I don't know if I do." Für den hübsch in die Discotheken der 1970er-Jahre zurückblickenden Titelsong Reflektor hat man übrigens David Bowie als Gastsänger ins Studio geladen, ein weiterer Hinweis darauf, dass man nicht mehr alles so ernst nimmt wie die befreundeten und verehrten Kirchenfürsten Bono und Bruce Springsteen.

Die Kunst der Himmelfahrt

Reflektor ist trotzdem kein leichtfüßiges oder gar lebensfrohes Album geworden. Gemeinschaft wird als Trost im Leben zwar angestrebt, das bei so gut wie allen jungen Leuten der westlichen Hemisphäre allzeit beliebte Heulen privilegierter weißer Mittelstandskids findet allerdings immer noch allein statt: "I'm so confused. Am I a normal person? / You know I can't tell if I'm a normal person / It's true, I think I'm cool enough, but am I cruel enough? / Am I cruel enough for you?"

Offenere Räume und eine lichte Großzügigkeit kennzeichnen die zweite Hälfte des Albums Reflektor. Hier traut sich die Band, wie etwa in der hübschen, sich langsam von der Kunst der Bagatelle zur Himmelfahrt steigernden Ballade Awful Sound (Oh Eurydice), eine Gelassenheit zu, die im ersten Teil von der altbewährten Technik der Überwältigung durch schlicht und einfach: Überwältigung verdeckt wird. James Murphy experimentiert dabei mit rückwärts laufenden Tonbandspuren von Orchestersounds und Chorsätzen. George Martin und die Beatles lassen grüßen.

Fenster auf und frische Luft rein. Nach Basilika riecht es immer noch. Oft knarren auch die Kirchenbänke. Am Ende aber, während der elf Minuten von Supersymmetry und seinem minutenlangen Verklingen des Schlussakkords hinein in die Stille, wird eines klar: Auch Krawallprediger kennen ein Bedürfnis nach Ruhe und Innehalten. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 30.10.2013)

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