STANDARD: Stellen Sie sich vor, es ist das Jahr 1350. Welche Neuigkeiten können Sie als Gelehrter aus dem Wissenschaftsbetrieb berichten?
Ruedi Imbach: Vor etwa zwei Jahrhunderten, ab 1150, begann eine Entwicklung, die eine ganze Reihe unbekannter Texte zugänglich machte. Da begann eine unglaubliche Übersetzungsbewegung von Schriften aus dem Arabischen und der griechischen Antike, inklusive des Gesamtwerks des Aristoteles. Das hat von 1150 bis 1250 eine richtige Wende bewirkt und zu einer großen Identitätskrise der christlichen Welt geführt.
STANDARD: Wie sah diese Krise aus?
Imbach: Die Texte enthielten Antworten auf entscheidende Fragen der Menschen. Antworten, die in anderer Weise auch die christliche Tradition bot. Eines der wichtigsten Probleme war der Ursprung der Welt. In der Bibel steht, dass Gott die Welt erschuf, sie also einen Anfang hatte. Aristoteles sagt, die Welt hat immer bestanden. Die Philosophen mussten sich auch mit dem Verhältnis von Vernunft und Glauben auseinandersetzen. Wie stehen Philosophie und Theologie zueinander?
STANDARD: Wie wurde diese Frage damals beantwortet?
Imbach: William Ockham gehörte sicher zu den wichtigsten Erneuerern. Er verneinte die Frage, ob die Theologie eine Wissenschaft sei. Nicht nur die Unabhängigkeit von der Kirche wird in dieser Zeit zum ersten Mal konsequent gedacht, auch die Funktion der Laien erhält eine neue Dimension. Bis ins 13. Jahrhundert gab es oft klerikalen Elitismus. Der Dominikaner Meister Eckhart sagte aber: Nicht die Gelehrten müssten dazulernen, sondern die Laien, die Ungelehrten.
STANDARD: Wie trug der Dichter Dante Alighieri, über den Sie viel gearbeitet haben, zur Überwindung des Mittelalters bei?
Imbach: Dante absolvierte kein reguläres Studium. Er war auch im intellektuellen Sinn Laie. Er hat neben der "Göttlichen Komödie" eine Reihe philosophischer Schriften verfasst. Die Sprache der Kleriker war damals Latein, die der Laien die Volkssprache. Da kommt Dante und schreibt 1307, die Volkssprache sei würdiger als das Latein. Das war eine richtige Revolution.
STANDARD: Ähnlich Luther, der die Bibel übersetzte, bereitet Dante damit die Moderne vor?
Imbach: Natürlich, aber 200 Jahre früher. Die "Commedia" ist ein Versuch, die entscheidenden Thesen und Lehren eines richtigen Lebens in der Volkssprache darzustellen. Und mit seiner "Monarchia" bringt er konsequent durchdacht die Unabhängigkeit der Politik von kirchlicher Macht zur Sprache.
STANDARD: Die "Commedia" erzählt eine Reise durchs Jenseits. Wo liegt das Werk im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Religion?
Imbach: Das Jenseits wird um des Diesseits willen beschrieben. Die "Commedia" ist ein ethisches Werk, das den Menschen in Erinnerung rufen will, dass sie für ihr Tun verantwortlich sind. Dante war an einer umfassenden Veränderung von Politik und Kirche interessiert. Für ihn ist die Kirche auf dem Irrweg, weil sie sich in die Politik einmischt und weil sie die von Jesus gepredigte Armut nicht lebt. Es ist ein ethisches Werk, das zeigt, wie der Mensch richtig und gut leben soll.
STANDARD: Auch die Konzentrationslager der Nazis wurden schon mit Dantes geordneter Hölle verglichen. Sie kommt auch bei Primo Levi, der Auschwitz überlebte, vor.
Imbach: Ich bin mit dem Vergleich von KZ und Dantes Hölle nicht glücklich, weil er auf einem zu wörtlichen Verständnis fußt. Dante schreibt selbst, dass allegorische Lektüre die richtige sei. Levi erinnert sich in Auschwitz an den Odysseus-Gesang der "Commedia". Er sagt, plötzlich habe er verstanden, und für einen Augenblick sei er aus der Hölle, die Auschwitz für ihn ist, erlöst worden. Ich glaube, das wollte Dante erreichen.
STANDARD: Apropos Literatur: Kann uns die postmoderne Aufbereitung in Umberto Ecos "Name der Rose" das Mittelalter näherbringen?
Imbach: Auch dort haben anfangs alle Dinge Bedeutung in einer höheren Ordnung. Am Ende ist die Welt, in der alles von Gott spricht, verschwunden. Das Buch illustriert das Zerbröckeln frühmittelalterlicher Weltsicht sehr gut.
STANDARD: Wissenschaft und Religion wetteifern bis heute. Welche Folgen hatte das damalige Aufeinandertreffen?
Imbach: Das Christentum hat sich verändert. Aber die Einflüsse sind gegenseitig: Auch Descartes, der als Begründer neuzeitlicher Philosophie gilt, ist mit antiker Auffassung nicht mehr vereinbar.
STANDARD: Kann Wissenschaft von heute etwas von damals lernen?
Imbach: Wir sollten das Mittelalter nicht studieren, um Antwort auf unsere Probleme zu finden. In diesem Sinne ist die Neuscholastik, die glaubte, jedes Problem mit Thomas von Aquin lösen zu können, überwunden. In der Kirche ist dieses Denken noch nicht ganz verschwunden, wie etwa eine Enzyklika von Papst Johannes Paul II. zeigt. Wir untersuchen, wie frühere Denker ihre Fragen bewältigten. Foucault sagte, wir beschäftigen uns mit antiker Philosophie, um uns verwirren zu lassen und um zu lernen, dass man auch anders denken kann.
STANDARD: Wie konnte die Philosophie damals auf gesellschaftliche Prozesse einwirken?
Imbach: Dadurch, dass sie lebte. Dass sie auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft Platz hatte. Nicht nur in den Universitäten und Klöstern, sondern auch an den Fürstenhöfen. Indirekt auch in den Kirchen, denn es gab auch einen öffentlichen Diskurs durch die Predigten. Wir müssen die Freiräume für die manchmal eigentümlichen Spekulationen der Philosophie bewahren. Der Gedanke hat auch wissenschaftspoltische Konsequenzen. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 30.10.2013)