Die Couch ist der wahre Spiegel des Selbst. Bei Therapieeinheiten mit Simultanübersetzung sind das "Normale" und das "Verrückte" immer wieder neu zu überprüfen, die Bruchlinien der Kontinentalplatten unterschiedlicher Realitäten keineswegs bebensicher. Das gegenseitige Verfehlen kann hurtiger gehen, als ein Hund den Knochen schnappt, um bei herkömmlichen Bildern zu bleiben. Die nichtherkömmlichen kommen bei den Psychiatriesitzungen verlässlich von alleine. Nie vergessen werde ich zum Beispiel jenen Patienten, zu dessen Erstgespräch ich mit einigem Bauchweh nach Tulln anreiste: Gugging war gerade aufgelöst worden, um Irrsinnigkeiten ganz anderer Art zu weichen.

Die Patienten wurden auf umliegende Krankenhäuser verteilt, dabei wurde ein Russe entdeckt, der offensichtlich schon seit Jahren dort herumhing. Angeblich ohne je mit dem Personal gesprochen zu haben. Aus Dolmetschermangel. Weder der Grund seines Aufenthalts noch die Freiwilligkeit waren klar. Dem übernehmenden Arzt graute ein wenig vor dem Treffen. Was, wenn der Künstler seine Zeit unnötig in Gugging verplempert hatte? "Ein Ikonenmaler, steht da." Der Arzt blätterte. Die Krankenschwester schüttelte entschieden den Kopf: "Bei uns malt er den ganzen lieben Tag nur Akte." Herein kam ein älterer Herr mit biblischem Bart und herbem Hiobsblick. Wir nahmen Platz. Der weißbekittelte Psychiater stellte sich vor. Ich dolmetschte. Der Hiobsblick wich einem misstrauischen. "Sie sind kein Arzt", sagte der Ikonenaktmaler zu mir. "Ich glaube Ihnen kein Wort." "Die Dolmetscherin übersetzt mich, den Doktor", übersetzte ich den Doktor. "Sie spricht für mich." "Ach so", sagte er und konzentrierte sich. "Und aus mir spricht der Staatssekretär von Moskau."

Es folgte ein Propagandaschwall über die Unbesiegbarkeit des sowjetischen Großreichs. "Die UdSSR gibt es nicht mehr", versuchte der Arzt sich bemerkbar zu machen. Vergeblich. "Und jetzt spricht der Oberpatriarch aus mir." Nach dem Patriarchen war ein Bösewicht dran, den er beharrlich Schwarzmann nannte. "Es gibt keinen Schwarzen Mann", lächelte der Psychiater milde, "hier sind Sie sicher." Der Kranke geriet in größten Aufruhr. Natürlich gebe es den! Er würde ihm tägliche Qualen bescheren! Er begann zu weinen. Wir brachen ab. Wenigstens war die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Aufenthalts geklärt. Die Geschichte mit dem Schwarzen Mann klärte sich viel später. Im Internet stieß ich zufällig auf einen berühmten russischen Ikonenmaler. Plätze in seiner Meisterklasse: so rar wie begehrt. Sein Name: Schwarzmann. Das Schreckgespenst war real. Unser Patient teilte Hitlers Schicksal an der Akademie. Er war offensichtlich abgelehnt worden. (Julya Rabinowich, Album, DER STANDARD, 25./26./27.2013)