André Stern war auf der Suche nach der perfekten Gitarre, lernte bei einem Gitarrenbaumeister, heute ist er selbst einer. Eine Schule hat er nie besucht.

Foto: andrestern.com

derStandard.at: Herr Stern, Sie sind bekannt als der Mann, der nie in der Schule war. Warum waren Sie eigentlich nie dort?

André Stern: Weil sich meine Eltern als Pädagogen schon lange vor meiner Geburt sehr viel mit Kindern beschäftigt haben und dabei zu der Überzeugung gelangt sind, dass Kinder alles mit auf die Welt bringen, dass sie perfekt und bestens ausgerüstet sind. Somit war es für sie bald absolut undenkbar, die natürliche, spontane Veranlagung ihrer Kinder irgendeinem System unterzuordnen. Also haben sie die Entscheidung getroffen, meine Schwester und mich nicht in die Schule zu schicken.

derStandard.at: Wie haben Sie die Tage Ihrer Kindheit dann verbracht? Einfach in den Tag gelebt?

Stern: Nein, überhaupt nicht. Meine Tage waren strukturiert, weil Kinder Rituale lieben. Das war überhaupt keine Laissez-faire-Methode. Oder um genau zu sein: Das war überhaupt keine Methode. Meine Eltern sind von keiner Theorie oder Ideologie ausgegangen. Sie sind einfach vom Kind ausgegangen. Die Tage waren durch die Spielregeln in unserem Haus strukturiert. Etwa, dass wir alle immer um dieselbe Zeit gemeinsam gegessen haben. Das hat ein festes Gerüst gebildet, das wir als Kinder mitgestaltet haben. Etwa wenn es um die Schlafenszeit geht.

derStandard.at: Später gab es bestimmte Tage für bestimmte Aktivitäten. Das kann man sich bei kleinen Kindern unter acht Jahren nur schwer vorstellen. Ab wann hat denn diese Art von Struktur begonnen?

Stern: Früher, als man denkt. Es ist sehr schwierig, Altersstufen klar festzulegen. Wir waren sehr viel mit den Eltern unterwegs, eigentlich kaum zu Hause. Dass ich allein zu manchen Kursen gefahren bin, ja das ist wahrscheinlich nicht vor dem Alter von sieben Jahren geschehen. Aber dass ich jetzt mit meinem Sohn ins Theater gehe, das findet schon seit seinem zweiten Lebensjahr statt.

derStandard.at: Wie sind die Ideen für Kurse entstanden? Gab es da Anregungen von Ihren Eltern?

Stern: Meine Eltern haben mich nie angeregt. Sobald man ein Kind anregt, hat man große Chancen, daneben zu liegen. Sie haben nicht versucht mir Wissen einzuflößen. Sie haben immer geschaut, was da herauswill. Es ist aber nicht so, dass ich eines Morgens aufgewacht bin und gesagt habe: "So, heute würde mich Metalltreiben interessieren." Da es kein Programm gab, wo für Mittwoch um 14 Uhr Mathelernen angesagt war, ist es schwierig zu sagen, aus welchem Grund, aus welcher Begegnung heraus ich mehr über etwas wissen wollte.

derStandard.at: Eine Zeitlang haben Sie sich stark für Autos interessiert?

Stern: Ja, mit ungefähr sieben Jahren hatte ich eine Leidenschaft für Lego und habe mir ein Auto gebaut. Mit einem kleinen Elektromotor fuhr das Auto ganz schnell. Und ich wollte wissen, wie schnell. Mithilfe einer Formel auf der Legopackung war ich in der Lage zu kalkulieren, wie schnell sich die Räder drehen. Als ich das herausgefunden hatte, habe ich angefangen weiterzusuchen. Das Werkzeug, das zur Verfügung stand, war das rosarote Lexikon meiner Mama. Das war ein sehr umständlicher Weg, aber der hat sich eingebrannt. Ich weiß noch genau, wie ich da jede Seite gelesen habe auf der Suche nach einer Antwort, wie ich das kalkulieren könnte.

derStandard.at: Wie kann ich mir das vorstellen: Saßen Sie dann da mit Ihrer Mutter, und sie gab Ihnen gelegentlich Hilfestellungen?

Stern: Absolut nicht. Die war ganz woanders beschäftigt. Das sind Dinge, die geschehen im Stillen. Da braucht es weder Unterstützung noch Anregung.

derStandard.at: War das immer so, dass Sie sich von einem zum Nächsten gehandelt haben? Dass Sie auf der Suche nach einer Antwort schon auf weitere zehn Fragen gestoßen sind?

Stern: Absolut. Das Spannende ist: Alles entwickelt sich so dreidimensional.

derStandard.at: Welche Rolle haben Ihre Eltern bei Ihrem Lernprozess eingenommen?

Stern: Ihre Rolle war immer eine beobachtende. Sie haben sich nie beteiligt. Nur manchmal, als ich etwa auf der Suche nach einem Meister war, der mich das Metalltreiben lehrt, sind sie natürlich mitgegangen. Aber ihre Frage war immer: Was wird der nächste natürliche Schritt in der Entwicklung des Kindes sein. Das habe ich mit meinem Sohn Antonin gemacht. Wir haben Mangokerne in ein Wasserglas getunkt und schauen, was da passiert. Er hat da keine Ziele. Er denkt nicht, morgen um fünf Uhr muss da ein Blatt rausschauen. Genau so sind meine Eltern mit uns umgegangen.

derStandard.at: Wenn Sie danach gefragt werden, ob Sie den Kontakt zu anderen Kindern nicht vermisst haben, klingt Ihre Antwort, als würde Sie diese Frage ärgern.

Stern: Sie erstaunt mich. Am Anfang war ich wirklich baff. Ich habe die Frage nicht verstanden. Weil ein Kind, das in seiner natürlichen, spontanen Veranlagung belassen wird, das geht auf andere Lebewesen zu. Alter und Wohnort sind derart künstliche, irrelevante Dinge, um Leute zusammenzutun. Bereicherung findet statt, indem die Verschiedenartigkeit stattfindet. Was mich zu meinen Freunden geführt hat, waren nicht die Daten des Personalausweises. Das waren Interessengemeinschaften.

derStandard.at: Kennen Sie Schulen überhaupt von innen?

Stern: Ich habe nie schnuppern wollen. Weil die Signale, die von der Schule kamen, wirklich nicht appetitlich waren. Die Kinder waren immer unter Druck, im Stress und konnten nie spielen. Immer wenn Kinder erfahren haben, dass ich nicht in die Schule gehe, haben sie gesagt: "Mensch, hast du ein Glück!" Ich hätte natürlich schnuppern können, so wie auch mein Sohn die Möglichkeit hätte. Aber ich hätte sowieso keine Zeit gehabt, ich war für die Schule viel zu beschäftigt. Heute besuche ich natürlich viele Alternativschulen. Oft werde ich gefragt: "Würdest du deinen Sohn hier hinschicken?" Und immer ist meine Antwort: Nein. Wenn ich mein ganzes Leben lang im Ozean geschwommen bin, dann ist mir jede Form von Aquarium einfach viel zu klein - egal wie groß, wie schön oder wie naturgetreu gestaltet.

derStandard.at: Ist das inspirierende Umfeld, in dem Sie großgeworden sind, nicht die Voraussetzung dafür, damit das Lernen ohne Schule gelingen kann?

Stern: Viele verstricken sich in der Idee, für sie selbst ginge das alles nicht, und wollen nicht mehr darüber nachdenken. Doch das wäre so ein Unrecht, das man meinen Eltern antun würde. Das würde ja bedeuten, meine Eltern sind eines Morgens aufgewacht, haben um sich herum geschaut und haben gesagt: "Oh, wie schön, alle Bedingungen stimmen gerade, das Umfeld ist ideal, also schicken wir die Kinder nicht in die Schule." So war es nicht. Sie haben diese Entscheidung getroffen, weil sie gar nicht anders konnten. Und erst ab diesem Moment haben sie die Bedingungen, die das möglich gemacht haben, erfunden. Und das kann jeder, jederzeit. (Karin Riss, derStandard.at, 25.10.2013)