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Musiktherapie kann Frühchen über den ersten Stress hinweghelfen. Forscher versuchen nun, mithilfe von akustischen Impulsen Menschen mit einem Schädel-Hirn-Trauma zu behandeln.

Foto: APA/EPA/MARIA ZARNAYOVA

Der Mann war mehr als eine Viertelstunde unter Wasser. Den Rettungskräften gelang die Wiederbelebung, das Herz fing wieder an zu schlagen. Im Spital musste der Facharzt jedoch gravierende Gehirnschäden feststellen. Nun ist der ehemals so sportliche Mittdreißiger ans Bett gebunden, spastisch gelähmt und unfähig, mit den Menschen in seiner Umgebung zu kommunizieren. Im Alltagsjargon wird ein solcher Zustand meist als Wachkoma bezeichnet. Ein hoffnungsloser Fall?

Gerhard Tucek, Kultur- und Sozialanthropologe sowie Studiengangsleiter für Musiktherapie an der Fachhochschule Krems, hat jahrelange Erfahrung in der Rehabilitation von Patienten mit schweren Schädel-Hirn-Traumata gesammelt. Neben den klassischen Maßnahmen wie der Physiotherapie können auch musiktherapeutische Interventionen bemerkenswerte Erfolge erzielen, betont der Experte. Der Anfang wird vielfach bereits auf der Intensivstation gemacht. In dieser ersten Phase nehmen die Therapeuten über einen rezeptiven Ansatz Kontakt mit dem Patienten auf. Manchmal mag es vielleicht so wirken, als ob dieser gar nicht mehr auf seine Umgebung reagiert, doch das täuscht oft. "Wir versuchen zum Beispiel, seinen Atemrhythmus aufzugreifen, und diesen musikalisch wiederzugeben", erklärt Tucek. Die Botschaft dahinter lautet: "Hier ist etwas, und du bist gemeint."

Um die Wirkung solcher Signale erkennen zu können, nimmt der Therapeut die Hand des Patienten und spürt so eventuelle Veränderungen in der Muskelspannung - die vegetativen Reaktionen auf den musikalischen Stimulus. Auch über den Blutdruck und die Herzfrequenz lässt sich beobachten, wie der Angesprochene reagiert und was ihm guttut. In einem weiteren Schritt kann dem Behandelten eine kurze Leitmelodie vorgesungen werden.

Musikalische Präferenzen

Dafür ist es wichtig, seine musikalische Biografie zu kennen, sagt Tucek. Einem italienischen Opernfan volkstümliche Klänge aus Österreich vorzusetzen, ist vielleicht nicht die beste Idee.

Wenn der Patient bei Bewusstsein und zumindest ein wenig bewegungsfähig ist, kommt in der zweiten Phase die interaktive Musiktherapie zum Einsatz. Eine Möglichkeit ist, ihn auf einer kleinen Trommel mit manueller Hilfe durch den Therapeuten einen Rhythmus trommeln zu lassen. Nicht er, sondern der Patient, betont Gerhard Tucek, gibt dabei den Takt vor.

"Es geht darum, sich aktiv hörbar und wahrnehmbar zu machen." Der Behandelte findet wieder einen Zugang zur Welt. Langsam, aber stetig. Interessanterweise kommt es bei vielen musiktherapeutischen Interventionen zu einer Synchronisierung zwischen dem Herzrhythmus und den Tönen. Das vegetative Nervensystem lässt sich offenbar auch bei schwer geschädigten Menschen mittels Musik positiv beeinflussen. Das wiederum fördert die Wirkung von weiteren Rehabilitationsmaßnahmen wie Logopädie und Schlucktraining. Die Fortschritte treten bei musiktherapeutischer Unterstützung deutlich früher ein, berichtet Tucek.

In manchen Fällen jedoch bleibt der Patient verschlossen und unbeweglich. Es kommt keine direkte Kommunikation zustande. "Wir wissen nicht genau, was diese Menschen wahrnehmen, aber sie leben", sagt Tucek. Die Musiktherapie könne dabei helfen, ihnen zumindest eine angstfreie Umgebung zu bieten. Den optimalen therapeutischen Zugang zu finden, ist allerdings nicht nur eine Frage der Methodik, sondern auch des richtigen Zeitpunkts. Und damit kommt die Chronobiologie ins Spiel.

Wie es bei praktisch allen Tierarten der Fall ist, unterliegt auch die menschliche Physiologie verschiedenen Gleichmäßigkeiten. Der so genannte circadiane Rhythmus, dessen Gesamtdauer etwa 25 Stunden beträgt, ist relativ gut erforscht, wie Tucek erläutert. Ganz anders sei dafür die Datenlage bei den ultradianen Rhythmen mit ihren deutlich kürzeren Phasen. Jeder von uns kennt sie zwar, diese kleineren Hochs und Tiefs in der Leistungsfähigkeit, die wir mehrfach täglich durchlaufen, doch wissenschaftlich wurden sie noch nicht eingehend untersucht.

Individuelle Muster

Tucek und seine Kollegen möchten diese Lücke nun zumindest in einem Bereich schließen. Aktivierungs- und Deaktivierungsphasen folgen zwar sehr individuellen Mustern, sie lassen sich aber durch Messung der Herzratenvariabilität, kurz HRV, gut voneinander unterscheiden. Die Körpersprache dürfte ebenfalls als Indikator infrage kommen. Gelänge es zum Beispiel, unterschiedliche ultradiane Phasen am Gesichtsausdruck zu erkennen, könnte man auf störende Messgeräte verzichten, meint Tucek. Das würde die Behandlung erleichtern: "Wir wollen erfassen, ob es jetzt Sinn macht, mit dem Patienten zu arbeiten", fasst der Musiktherapeut zusammen.

Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Kremser Experten ein neues Forschungsprojekt gestartet. Zunächst werden bei verschiedenen Testpersonen exakt die Veränderungen in der HRV im Zusammenhang mit den chronobiologischen Rhythmen ermittelt. Anschließend sollen diese Muster über Videoaufnahmen der Versuchsteilnehmer mit deren Körpersprache in Verbindung gebracht werden. Informationen aus Interviews runden das Bild ab. Diese so gewonnenen Erkenntnisse dürften nicht nur Musiktherapeuten bei ihrer Arbeit zugute kommen. Aufnahmefähigkeit ist schließlich die wichtigste Grundlage für den Behandlungserfolg. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 23.10.2013)