STANDARD: "Was wäre gewesen, wenn ...?" Das ist die zentrale Frage Ihrer neuen Oper "Paradise reloaded (Lilith)". Wenn Sie auf Ihre eigene Biografie zurückblicken: Was waren bei Ihnen die zentralen Punkte, wo alles hätte anders sein können?
Eötvös: Das beginnt eigentlich schon mit meiner Geburt: Wenn mein Leben nicht in Transsylvanien begonnen hätte, wäre alles ganz anders gekommen - und wenn wir nicht das Glück gehabt hätten, auf unserer Flucht während des Krieges im Februar 1945 nach Dresden zu kommen und zu überleben. Weiter: Wenn meine Mutter, als ich 14 war, nicht zufällig erfahren hätte, dass am nächsten Tag eine Aufnahmeprüfung an der Musikakademie stattfindet und mich Zoltan Kodály nicht aufgenommen hätte, dann wäre ich jetzt nicht hier. Und wenn ich kein Stipendium bekommen hätte, um in Deutschland zu studieren, wäre ebenfalls alles vollkommen anders gekommen.
STANDARD: Wie haben sich Ihre Schwerpunkte als Dirigent neuer Musik und als Opernkomponist ergeben?
Eötvös: Ich hatte mich als Chefdirigent in Solingen beworben und war nur an die zweite Position gereiht worden. Wenn ich diese Stelle bekommen hätte, hätte ich nicht ein paar Monate später das Angebot annehmen können, das Ensemble Intercontemporain von Pierre Boulez zu leiten. Das war auch ein wirklich wichtiger Schicksalspunkt. Und Ende der 1980er-Jahre hat mich Kent Nagano gefragt, ob er meine Chinese Opera an der Oper in Lyon spielen könne. Ich habe ihm gesagt, dass das ein Orchesterstück ist und keine Oper. Daraufhin hat er mich gefragt, ob ich nicht eine Oper schreiben könne. Durch dieses Missverständnis ist erst meine ganze Opernkarriere losgegangen.
STANDARD: Hat sich Ihr Verhältnis zur "Avantgarde" von Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez im Laufe der Zeit verändert?
Eötvös: Eigentlich nicht. Die Zeiten, wo wir noch zusammengearbeitet haben, liegen zwar inzwischen Jahrzehnte zurück, aber meine Bewunderung für beide ist noch genauso groß wie damals. Allerdings hat sich in unserer Zeit etwas Grundsätzliches geändert: Die heroischen Großmeister wie György Ligeti oder György Kurtág gibt es heute in der neuen Musik eigentlich fast nicht mehr. Helmut Lachenmann ist vielleicht der Letzte, der noch als "Meister" angesehen wird. Aber danach kenne ich keinen mehr. Wir sehen heute eher ein breiteres Feld voll mit jüngeren Komponisten; die Konzertveranstalter schauen auf die jüngste Generation, und es tauchen daher immer wieder neue Namen auf. Die Zeiten sind also viel "demokratischer" geworden.
STANDARD: Wie kann man eine so traditionelle Gattung wie die Oper immer wieder aktuell halten?
Eötvös: Ganz einfach durch Schreiben, Aufführen und Wiederaufführen. Ich glaube, da hat sich seit 400 Jahren nicht viel geändert, und man muss die Oper nur am Leben halten. Momentan ist die Lage sehr günstig, glaube ich. Momentan werden sehr viele Opern geschrieben und auch aufgeführt, zumindest in Westeuropa, aber auch in Amerika haben sich die Bühnen für neue Opern in den letzten Jahren sehr stark geöffnet.
STANDARD: "Paradise reloaded (Lilith)" ist eine Weiterentwicklung Ihrer Oper "Die Tragödie des Teufels". Was ist der entscheidende dramaturgische Unterschied zwischen den beiden Stücken, und wie wirkt sich dieser musikalisch aus?
Eötvös: Der große Unterschied ist die Hauptperson in den beiden Stücken: In der Tragödie des Teufels war alles auf Luzifer konzentriert, und ich habe damals schon gedacht, dass Lilith in dieser Geschichte eine viel geeignetere Hauptperson wäre. Deswegen habe ich meinem Librettisten Albert Ostermaier vorgeschlagen, dass wir nochmals an diese Geschichte herangehen, und er war sehr entgegenkommend und hat noch zwei neue Szenen dazugeschrieben. Mehrere Szenen aus der Tragödie haben wir weggelassen, und aus den gebliebenen Texten ist dann eine andere dramaturgische Reihenfolge entstanden. Die neue Handlung habe ich mit Mari Mezei ausgearbeitet, aber Ostermaier ist ein aktiver Mitarbeiter geblieben.
STANDARD: Warum ist Lilith als Figur für Sie interessanter?
Eötvös: Weil sie als erstgeschaffene Frau in Konkurrenz mit Eva tritt. Außerdem ist sie ein Mensch, der dann später ein Dämon wird und dadurch eine andere Existenz erfährt. In meiner Geschichte habe ich sie dann wieder zu einem Menschen gemacht. Das steht so in den apokryphen Schriften nicht. Aber diese Qualität, dass sie beide Welten kennt, war besonders reizvoll für mich. Musikalisch habe ich aus der Münchner Fassung nichts übernommen, weil eine andere Dramaturgie eine andere Klangwelt verlangt. Deswegen habe ich eine ganz neue Oper von Anfang bis Ende geschrieben - mit kleinerer Besetzung, aber alles neu.
STANDARD: Sie sind jemand, der sich immer mit gegenwärtigen Entwicklungen auseinandersetzt und mit seinen Werken darauf reagiert. Wo sehen Sie in der heutigen Welt teuflische Erscheinungen und Lichtgestalten?
Eötvös: Das kann ich nicht beantworten. Dafür würde ich zwei bis drei Wochen brauchen.
STANDARD: Ihr ganzes Schaffen, Ihre ganze Ausdrucksweise ist tief in der ungarischen Kultur verwurzelt. Was bedeutet es heute für Sie, in Ungarn zu leben, Ungar zu sein?
Eötvös: (denkt lange nach) Es kommt aus meinem Lebensweg, dass ich in der ungarischen Kultur aufgewachsen bin, sprachlich, musikalisch, mit Gedichten, der Literatur, mit Filmen und vor allem dem Theater. Dann bin ich mit 22 in den Westen gegangen, habe in Deutschland, Frankreich und Holland gelebt. Dadurch habe ich andere Kulturen kennengelernt und festgestellt, dass für mich die Sprache ein sehr wesentliches Element ist. Das war für mich auch der Hauptgrund, zurück nach Ungarn zu gehen. Andererseits ist mein Freundeskreis auch da. Und ich finde es interessant, von Ungarn aus auf die westliche Welt zu schauen. Um ein Panorama anzuschauen, braucht man einen Standort. Da ist Ungarn für mich gut geeignet, weil es wirklich anders ist als der Rest der Welt. (Daniel Ender, DER STANDARD, 23.10.2013)