Wolfgang Zinggl, Gerhard Ruiss, Rudolf Scholten und Boris Marte (v. li.) diskutierten im Burgtheater über 25 Jahre Kulturpolitik: vom Skandal um "Heldenplatz" über den "Kulturkampf" der FPÖ bis hin zur tristen sozialen Lage der Kunstschaffenden.

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Schwerpunktausgabe
25 Jahre STANDARD

STANDARD: Vor 25 Jahren gab es in Wien eine riesige Erregung wegen "Heldenplatz" von Thomas Bernhard. Herr Scholten, Sie waren damals neuer Generalsekretär des Bundestheaterverbands. Wurde von der Politik interveniert? Helmut Zilk, Bruno Kreisky und Alois Mock sprachen sich ja gegen die Uraufführung aus. Sie fand am 4. November im Burgtheater statt.

Scholten: Alle paar Jahre wird nach Zensur geschrien. Und da gibt es als Theater nur eine Antwort: Das geht nicht. Es gab zum Glück niemanden, der daran dachte, klein beigeben zu müssen. Die Uraufführung war daher nie in Gefahr. Ich will die Aufregung nicht kleinreden, aber solche Skandale sind sehr zeitbezogen. Der Wirbel hat für die Gegenwart nur wenig Relevanz - abgesehen von der Romantisierung: Mei, damals gab es noch große Skandale!

Ruiss: Es ging aber natürlich auch um das Gedenk- und Bedenkjahr 1988. Wenn man sich daran erinnert, wie das offizielle Österreich reagiert hat! Man kann sich eine solche Geschichtsverzerrung heute gar nicht mehr vorstellen: Ein paar Menschen seien auf dem Heldenplatz dazu verführt worden, für den Nationalsozialismus zu sein.

Marte: Die späten 80er-Jahre waren überlagert von einer starken Diskussion über die Vergangenheit. Mit Kurt Waldheim, seit 1986 Bundespräsident, kam all das heraus, was die Republik jahrzehntelang verdrängt hatte. Es gab Bemühungen, das Bild Österreichs international wieder zurechtzurücken. In der ÖH haben wir damals viele Veranstaltungen organisiert. Wir haben auf dem Morzinplatz zu Lesungen eingeladen und eine Studie über Antisemitismus in den Universitäten gemacht. Immer wieder hieß es: "Macht's das nicht!" Es gab den sanften Druck vom Außenamt wie von der Stadt Wien, Österreich doch nicht wieder anzuschwärzen. Und da brach plötzlich Heldenplatz herein.

Ruiss: Zudem waren die 1980er das Jahrzehnt der Kulturskandale. 1982 wurde die Freiheit der Kunst als Verfassungsgesetz verwirklicht. Von da an hieß es: Grenzenlose Freiheit darf es nicht geben, wir brauchen Grenzen! In rascher Abfolge gab es mehrere Beschlagnahmen: 1983 der Achternbusch-Film Das Gespenst, 1984 das Buch Holzfällen von Bernhard, 1985 Liebeskonzil von Werner Schroeter. Das große Finale war Heldenplatz . Die Vorarlberger Nachrichten haben ihre Leser darüber abstimmen lassen, ob Heldenplatz aufgeführt werden soll oder nicht. Das hat absurde Dimensionen bekommen.

Zinggl: Es gab auch später Skandale: Christoph Schlingensiefs Container-Aktion Ausländer raus bei den Wiener Festwochen im Jahr 2000 - und 25 Peaces im Gedenkjahr 2005 mit der Diskussion über die kritischen Europa-Plakate. Damals sind ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Josef Cap von der SPÖ aktiv geworden.

Marte: Auch Ausländer raus platzte zur richtigen Zeit hinein: Man pilgerte nach den Demonstrationen gegen Schwarz-Blau zum Container vor der Oper. Ich frage mich: Hätte die Aktion fünf Jahre früher oder später dieselbe Wirkung gehabt? Aber hinter den Projekten steckt schon Genialität: Schlingensief und Bernhard haben eine Sprache gefunden, die nach außen und mitten hinein in den öffentlichen Diskurs gedrungen ist. Dass Kunst eine solche Kraft hat: Das ist das Schöne!

Ruiss: Es gab zwar noch ein paar Skandale, aber in der Regel hat sich die große Koalition nicht mehr beteiligt. Für sie war klar, dass die Freiheit der Kunst garantiert zu sein hat. Und dann hat die Rechtsopposition begonnen, die Skandalisierungsmaschine zu bedienen. 1995 rief Jörg Haider den Kulturkampf aus, der bis 1999 anhielt.

STANDARD: Die FPÖ ließ ein Plakat affichieren, auf dem stand: "Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk ... oder Kunst und Kultur?" Herr Scholten, Sie waren damals Kunstminister. War das eine Diffamierung Ihrer Person?

Scholten: Die FPÖ hat eben entdeckt, dass sich dieses Feld hervorragend für Polemiken eignet. Und sie hat es ausgenützt. Daraus eine Leidensgeschichte zu machen, wäre aber unehrlich. Zu den Hinrichtungen durch den Staberl in der Kronen Zeitung haben mir meine Freunde sogar gratuliert. Diese Gegenstimmung war zudem für das Durchsetzen von Anliegen hilfreich. Wirklich diffamiert wurden Künstler, etwa H. C. Artmann und Cornelius Kolig, da gab es unglaubliche Gemeinheiten.

Ruiss: Die Künstler wurden regelrecht vorgeführt. H. C. Artmann hat nicht mit einer Attacke gerechnet, er war völlig überrascht. Die Hetze war besonders für die unangenehm, die weniger prominent waren. Das war für manche sogar existenzbedrohlich.

STANDARD: Ein Grund für Haiders Kulturkampf war Ursula Pasterk: Die Wiener Kulturstadträtin sagte in einem Interview, das Kultur- sei das Ideologieressort der SPÖ.

Scholten: "Ideologie" klingt immer gleich nach Ostblock. Aber: Entweder versteht man den Staat als reinen Infrastrukturdienstleister - oder es geht darum, Entscheidungen zu fällen, die die kulturelle Landschaft beeinflussen. Und die fallen nicht ohne persönliche Haltung. Als Neutrum kann man keine Entscheidungen treffen. Oder sie schauen dann eben so aus, wie sie ausschauen, wenn sie aus einer neutralen Position getroffen werden.

Zinggl: Ähnliche Aussagen wurden schon vor Pasterk getätigt. Für Kreisky war Kulturpolitik Gesellschaftspolitik. Der FPÖ ging es darum, die Politik aus der Verantwortung zu entlassen. Wenn sich Politik aber ideologisch überhaupt nicht einzumischen hat, beginnt ihre Loslösung von der Kunst. Und die hat sich bis heute fortgesetzt: Die Politik glaubt, nichts mit Kunst zu tun zu haben. Aber das ist ein Mythos. Denn auch über Finanzierungsabsagen und Besetzungen wird Politik gemacht. Das Motto "Schauen wir, dass wir Leute ernennen, die politisch möglichst wenig Wirbel machen" ist nicht mutig.

Ruiss: Der Staat hat sich vielfach seiner Verantwortung entledigt. Ein Beispiel: 1992 wurde das Verlagsförderungskonzept realisiert, das ungeahnte Erfolge hatte. Wir haben zweimal den Deutschen Buchpreis gewonnen und so weiter. Aber man sagt nicht: Das Modell ist gut, wir stocken das Budget auf. Es ist seit 1992 unverändert! Trotz der Inflation. Man weiß nicht mehr, wem man etwas geben soll, weil es so wenig Geld gibt. Oder: In Deutschland war es für die Bundeskanzlerin kein Problem, die Autoren bei ihrer Auseinandersetzung mit Google Books zu unterstützen. Wir in Österreich hätten auch eine Unterstützung gebraucht. Aber wir konnten kein einziges Signal vernehmen.

Zinggl: Und im Parlament gibt es keine kulturpolitischen Diskussionen mehr. Was heute stattfindet, ist lächerlich - verglichen mit den Debatten vor 30 Jahren. Die demokratische Diskussionskultur ist zu diesem Thema leider verlorengegangen. Obwohl die ideologischen Positionen die gleichen sind. Es gäbe sehr wohl wichtige Punkte, über die diskutiert werden müsste. Zum Beispiel: Hat die Kunst vornehmlich die Aufgabe des Repräsentierens?

STANDARD: Peter Marboe von der ÖVP forderte als Pasterk-Nachfolger die Entpolitisierung. Sie, Herr Marte, waren sein Kabinettschef.

Marte: Die Entpolitisierung wurde immer falsch verstanden. Marboe wollte nicht kulturellen Inhalt entpolitisieren, das geht ja gar nicht, sondern den Kulturbetrieb entflechten. Der Kulturstadtrat war damals ja gleichzeitig auch Präsident aller wesentlichen Kulturinstitutionen - und hat daher quasi den eigenen Budgetantrag unterschrieben. Die Idee war, dass sich der Kulturpolitiker aus diesen Funktionen zurückzieht. Dieser Initiative verdanken wir, dass Eric Pleskow Präsident der Viennale ist. Kulturpolitik verlangt einen großen Gestaltungswillen. Heute ist dieser Gestaltungswillen nicht mehr spürbar: Man verwaltet, aber gestaltet nicht mehr. Ein Beispiel: In Venezuela gibt es die Bewegung El Sistema, die über die Musik sozialen Frieden herstellt. Bei uns hingegen gibt es für junge Menschen, die etwas Ähnliches machen wollen, keine Förderungen und keine Fördertöpfe. Die Institutionen, auch die Förderinstitutionen, bilden längst nicht mehr die Wirklichkeit ab.

STANDARD: Sie, Herr Scholten, haben Ihren Gestaltungsspielraum genutzt - und Bundeskunstkuratoren bestellt, darunter auch Wolfgang Zinggl. Es gab Lob, aber man kritisierte auch die Etablierung einer feudalistischen Struktur.

Scholten: Die Beamten der Kunstsektion betreiben das Vehikel mit großer Sachkenntnis und Korrektheit. Aber neue Tendenzen kommen oft zu kurz. Daher habe ich für jeweils zwei Jahre Persönlichkeiten bestellt und mit einem namhaften Budget ausgestattet, um Projekte zu finanzieren, die ansonsten nicht realisiert worden wären. Es gab zwar die Feudalismuspolemik, aber es war eine erfolgreiche Geschichte.

Zinggl: Die Förderung kritischer Kunst ist eine Notwendigkeit - gerade im Zusammenhang mit der Freiheit der Kunst. Andererseits: Wer will schon Kunst fördern, die einem ständig auf den Kopf schlägt? Die Kuratoren hatten daher auch eine Scharnierfunktion zwischen denen, die den Staatsapparat, die Regierung, kritisieren, und denen, die das eigentlich fördern sollten. Kanzler Viktor Klima z. B. hat bei mir wegen des Kunstwerks Schubhaft ist staatlicher Rassismus interveniert, auf dem stand: "Gefördert vom Bundeskanzleramt". Aber erfolglos.

STANDARD: Da sind wir auch gleich bei den "Staatskünstlern" ...

Scholten: Sie sprechen den Vorwurf der FPÖ an, dass der Staat Künstler mit Geld aufmunitioniert hat, gegen Österreich aufzutreten, oder aber mundtot finanziert hat. Das ist nie passiert. Weder gab es den Staatsbeschimpfungskünstler, noch gab es den Staatsjubelkünstler. Es ist völlig absurd anzunehmen, dass man bei Elfriede Jelinek einen Text bestellen kann.

Ruiss: Es war ein Totschlagargument, um jemandem die Glaubwürdigkeit zu entziehen. Aber das Problem ist längst abgearbeitet.

STANDARD: Nicht erledigt hat sich die triste soziale Lage der Kunstschaffenden.

Scholten: Ja, wir haben eine große Zahl von Künstlern, die von dem, was sie zu verdienen in der Lage sind, schlicht nicht leben können. Das ist in anderen Ländern wohl auch so. Aber dieses Argument ist zynisch - und keine Antwort, wenn wir uns als besonderes Beispiel für eine Kulturnation rühmen. Wir agieren zu unehrgeizig. Keine Frage: Auch in meiner Zeit gab es Versäumnisse.

Ruiss: Es gibt lediglich eine merkwürdige Konstruktion, die nur einem schmalen Bereich von Künstlern bei den Sozialversicherungsbeiträgen unter die Arme greift. Wir sind nun pflichtversichert und wurden in Systeme eingebunden, die uns Geld kosten, das wir nicht haben. Das ist unser Dilemma. Daher verarmen wir.

Zinggl: Wenn ein Berufsstand derart von Armut bedroht ist, ist es die Aufgabe der Politik, den Betroffenen unter die Arme zu greifen. Zum Beispiel mit einer Grundsicherung, wie das die Grünen fordern. Schon im Kulturprogramm der SPÖ von 1986 mit dem Titel Perspektiven 90 wurde die soziale Absicherung als Schwerpunkt deklariert. Und wir kommen nun sicher in eine weitere Amtsperiode des schlechten Gewissens, in der das Versprechen nicht eingelöst wird.

Ruiss: Ich fürchte mich vor einer Sonderregelung für Künstler: Die privilegierteste Personengruppe zu sein würde uns einer massiven Kritik aussetzen. Wir hätten ja dann Staatskünstler zur Potenz.

Scholten: Das kann es doch nicht sein, dass wir aus Angst vor der Polemik das Problem bestehen lassen! Es geht nicht um ein Privileg, sondern darum, eine verwaltbare Struktur zu finden, die die soziale Situation verbessert.

Zinggl: Warum soll ein Berufsstand, der besonders schlecht dran ist, nicht ein korrigierendes Privileg erhalten? Die Künstler würden durch die Grundsicherung ja nicht reich werden! Im Kunstbereich gibt es zudem eine Besonderheit: Kaum jemand wechselt in einen anderen Beruf. Die Künstler nehmen lieber in Kauf, dass es ihnen schlecht geht.

Marte: Man kann die soziale Lage aber nicht diskutieren, ohne auch die Mittelausstattung der kulturellen Institutionen zu erwähnen. Ich stehe noch unter dem Eindruck der alarmierenden Rede von Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann anlässlich der 125-Jahr-Feier vor einer Woche. Wenn schon Institutionen nicht mehr ihren Kulturauftrag erfüllen können, wundert es mich nicht, dass Menschen keine Jobs im Kulturbereich finden. In manchen Institutionen wird alles über Werkverträge erledigt. Statt einer gewissen Sicherheit gibt es "prekäre Verhältnisse", wie es Pierre Bourdieu formuliert hat. Es ist höchst beschämend, wie das Land mit seiner kulturellen Kraft umgeht. Wenn unser Innovationspotenzial die Kultur ist, dann verlangt sie eine andere Aufmerksamkeit.

Scholten: Ja, eine Zeitlang hat man die großen Institutionen gezwungen, sich um ihre Wirtschaftlichkeit zu kümmern. Aber das hat man überzogen. Und wenn das jetzt zulasten der Kleinen geht, dann wird es überhaupt desaströs.

Zinggl: Wir vier wollen mehr Geld für Kultur haben - no na. Aber es muss auch um die Verteilung gehen. Ich glaube schon, dass es Theaterhäuser gibt, die gut mit dem Geld auskommen, das der Burgtheaterdirektor zur Verfügung hat. Und es gibt andere Institutionen, die dieses Geld schon seit langem brauchen würden.

Ruiss: Reden wir lieber vom Gesamtbudget! Für Kunst und Kultur gibt es immer weniger Geld. Es braucht eine Umverteilung von anderen Ressorts hin zur Kunst.

Scholten: Wir sollten uns nicht in Verteilungsdiskussionen verheddern. Wir haben Milliarden ausgegeben für die Reparatur von wirtschaftlichen Fehlentscheidungen vor 2009. Aber wenn man sagt, wir brauchen eine Privilegierung der Themen Bildung, Wissenschaft und Kunst, heißt es gleich: Maastricht-Kriterien! Staatsverschuldung! Ich aber behaupte: Würde ein Staat erklären, dass man eine Erhöhung des Defizits bewusst in Kauf nimmt, um gezielt Bildung, Wissenschaft und Kunst zu forcieren, dann würde man international immense Aufmerksamkeit erhalten. Und zwar positive. Das wäre eine historische Chance, wenn wir sagten: Wir achten sehr auf den Staatshaushalt, aber diese Bereiche muss man anders behandeln, denn sonst sparen wir die Zukunft ein. Auf ein solches Zeichen könnten wir stolz sein. Diesen Punkt zu setzen ist heute leichter als in ruhigen Zeiten. Es ist geradezu eine ideale Zeit dafür.

Marte: Die großen Institutionen müssten einen guten Weg beschreiten können - und auf der anderen Seite müsste es genügend Geld geben, um das Neue möglich machen zu können. Der große Leidtragende ist das Neue. Und es gibt immer weniger private Förderer, die sich trauen, etwas Neues zu unterstützen. Die meisten geben nur denen Unterstützung, die eh schon Geld haben. Das halte ich für sehr bedenklich: Dass man nur auf die sichere Karte - und auch dort nur auf die repräsentative Kraft der Kunst setzt. Und dass man nicht die Frage stellt: Was hat in der Kunst von sich heraus Sinn, gefördert zu werden?

Ruiss: Wir haben bereits zwei Legislaturperioden hinter uns, in denen sich niemand etwas getraut hat. Was brauchen wir? Eine mutige Regierung. Und eine Kulturpolitik, die etwas riskiert. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 19.10.2013)