Im Herbst 1988, als der STANDARD gegründet wurde, war Österreich eine Demokratie, die unsanft aus Selbstzufriedenheit und (berechtigtem) Erfolgsgefühl erwachte.

Die wütende Debatte darüber, ob ein Bundespräsident in einem verbrecherischen Krieg "nur seine Pflicht getan haben" konnte; ob Österreich beim Anschluss 50 Jahre vorher "nur Opfer" gewesen war, ging an das Selbstverständnis großer Teile der Bevölkerung und an die offizielle Staatsdoktrin (nur Opfer!). Österreich hatte aber auch ein Großprojekt: Der EU-Beitrittsantrag von 1989 wurde vorbereitet. Und eine große Herausforderung: Hinter dem Horizont wartete schon der Zusammenbruch des Sowjetimperiums in Osteuropa, der im Sommer 1989 begann.

Österreich war damals eine Konsensdemokratie mit ersten Haarrissen: die SPÖ und die ÖVP noch dominierende Großparteien, der radikale Rechtspopulismus bei zehn Prozent - dank Haider doppelt so viel als vorher, aber nicht bei 21 Prozent (mit Potenzial für mehr) wie heute.

Vor allem: Das System der Gegengeschäftsdemokratie - ihr gebt uns (Staats-)Jobs und Sozialleistungen, wir wählen euch - schien noch intakt. Entsprechend hoch waren Wahlbeteiligung und Parteitreue.

25 Jahre später herrscht tiefe Unzufriedenheit mit dem politischen System. Die ewigen Regierungsparteien SPÖ und ÖVP, die 1988 noch beide über 40 Prozent hatten, liegen bei 27 und 24 Prozent. Eine Nachwahlumfrage im Auftrag der "Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform" ergab, dass 78 Prozent der Politik weniger bzw. gar nicht vertrauen. Die Wahlbeteiligung ist auf 74 Prozent gesunken. "Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit gefühltem und tatsächlichem Stillstand, Reformstau und Blockadehaltungen hat leider neue Rekordwerte erreicht" - so das Fazit der honorigen, gescheiten Bürgerlichen um Heinrich Neisser von der "Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform". Sie haben einen "Demokratiebefund 2013" präsentiert, (www.mehrheitswahl.at), eine Mischung aus Bestandsaufnahme und Reformvorschlägen.

Was will "das Volk"? Mehr "direkte Demokratie" (zu 67 Prozent), lautet ein Umfrageergebnis der "Initiative". Nur ist die Frage, ob es gelingt, ein echtes Mehr an politischer Partizipation zu erzeugen oder nur mehr Gelegenheiten zu Ressentiment-Abstimmungen.

Die Vermutung besteht, dass wir erst in der Anfangsphase von Veränderungen stehen, die unsere immer noch funktionierende Demokratie auf eine ziemliche Probe stellen werden. Der Sozialstaat österreichischen Zuschnitts ist nicht gesichert; die gesellschaftlichen Konsequenzen der Zuwanderung sind nicht im Griff, oft nicht einmal erkannt; was man mit dem stark nach rechts geneigten Viertel der Bevölkerung konstruktiv anfangen soll, ist nicht bekannt.

Es wird das alles irgendwie bewältigt werden. Österreichs Demokratie wird ihre neuerliche Probe recht und schlecht bewältigen (die Qualitätsmedien sollten sich dabei ausdrücklich angesprochen fühlen). Der erste Schritt, nämlich eine wirklich schonungslose, umfassende Analyse, steht noch aus. (HANS RAUSCHER, DER STANDARD, 19.10.2013)