Schwerpunktausgabe
25 Jahre STANDARD

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Mischa Jäger: "Die Zurückweisung von Zumutungen aus PR-Büros und Parteisekretariaten beanspruchte gefühlte 50 Prozent der Arbeitszeit."

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Höhlenzeichnungen aus dem späten Zweiten Jahrtausend: Mischa Jägers Kontaktadressen-Sammlung der ersten Stunden, genannt das "Fetzenbuch."

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1.) Kundschaft (ständig) - "Tach, Herr Jäger, Sie machen ja da diese Seite im STANDARD, könnten Sie uns mal die Eckdaten mailen, wir würden gern ein Op-Ed von unserem Kunden Y platzieren."

"Ja, servas, X-Müller, SPÖ, du ihr habts ja vorige Woche den ÖVP-Klubchef zum Dings dringhabt, jetzt würd ma gern auch ..."

Die Abwehr von Beiträgen zwischen PR- und Proporzjournalismus beansprucht gefühlte 50 Prozent der Arbeitszeit. An den Begehrlichkeiten aus Parteisekretariaten und Marketingbüros hat sich wenig geändert.

2.) Erste Schritte (September/ Oktober 1988) - Wie aber hat das alles angefangen? Ich saß damals in einem Zimmer zusammen mit Fritz Molden, der die Gründungsvor- und Frühgeschichte des STANDARD als Berater begleitete und u. a. jeden Morgen per Diktafon Leserbriefe beantwortete bzw. die bereits von einer Assistentin in schriftliche Form gebrachten Antworten redigierte, ihm gegenüber der Chronist, ständig in einem kleinen Notizheft blätternd (siehe Foto), linker Hand ein vorsintflutliches Tastentelefon, dahinter ein trickreich systematisiertes Sammelsurium aus Bene-Ordnern mit Textangeboten ("unbrauchbar", "in Evidenz" etc. ) samt zugehöriger Korrespondenz. Die ersten KDA-Autoren verdanken wir u. a. Moldens verlegerischem bzw. diplomatischem Netzwerk.

3.) Kreisky fragen (Wien/Mallorca, Frühjahr 1989) - Weibliche Stimme aus dem Hintergrund: "Bruno, du telefonierst schon wieder zu lange." Vielleicht unterlag der Chronist aber auch nur einer anekdotentauglichen akustischen Täuschung. Tatsache ist: Kreisky unterbricht das Telefonat, bittet um Verständnis und um erneuten Anruf eine halbe Stunde später, um dann dem nur mit einem Kugelschreiber ausgestatteten Redakteur ansatzlos seinen Kommentar-Text in den Kugelschreiber zu diktieren. "Schreiben Sie, Herr Redakteur: Ich kenne Jörg Haider nur zu gut ..." Wenige Wochen zuvor erscheint ein unter ähnlich vorsintflutlichen Produktionsbedingungen entstandener Text von Systemtheorie-"Gott" Niklas Luhmann zum Thema Risiko und Gefahr, basierend auf einem Mitschnitt eines Vortrags an der Wiener Uni.

4.) Sprung vorwärts (Oktober 2013): Gerade mache ich dank eines aktuellen Zeit-Artikels über jüngste Strömungen im digitalen Medienwandel die Bekanntschaft mit einem "Bildschirmhelden im Netz", der unter dem Künstlernamen "LeFloid" unter Teenies große Berühmtheit erlangt haben soll und in einem Video, vor einer Kulisse aus Skateboards stehend, Sätze formuliert wie "Aloha, Freunde, meine Fresse, was passiert denn in der Welt gerade. In Syrien ist gerade richtig Ghetto angesagt".

5.) Glück im Unglück. (Juli 2013) Ein Wohlmeinender rät mir, eine doch "zweifellos als Vorwurf gedachte" Passage aus einer Hausmitteilung aus Anlass des KDA-Ressortleiterwechsels keinesfalls kommentarlos hinzunehmen. Darin ist im Zusammenhang mit dem Dauerstreitthema Feminismus von Beiträgen die Rede, die "manchmal an die Grenze dessen gingen, was mit Meinungsfreiheit noch zu vertreten war". Gerne füge ich dem Satz daher noch ein deutliches "Aber" hinzu: Alle diese Kommentare sind erschienen. Ohne Auflage, ohne Ausnahme und mit allem Risiko.

6.) Mach einen Plan (aus einer Eintragung in ein sporadisch geführtes Produktionstagebuch, stark gekürzt): Fürs Erste geplant - ein Pro und Kontra zur UG-Novelle, unter der Annahme: keine Rauscher-Kolumne. Erste Hürde: Keiner der beiden Texte, die eigentlich schon seit Samstag zugesagt waren, ist eingelangt, also urgieren, Zusage für Mittag, gleichzeitig stellt sich heraus: Rauscher-Kolumne doch, was wieder zur Folge hat, dass die mittlerweile eingetroffenen UG-Texte extrem gekürzt werden müssten, zumal gleichzeitig via Redakteur P. das Angebot aus Moskau kommt: Die Korrespondentin würde russische Pressestimmen zu Obama zusammenstellen, was ich vorerst offenlasse, um auszutesten, ob und wie man den UG-Komplex so reduzieren kann, dass sich Russland noch ausgeht, parallel erreicht mich von Martin Fritz ein adäquater Text zum Museumsstreit, ich breche die Arbeit an den Uni-Texten ab, sage P. zu, verständige die UG-Autoren über Verschiebung auf Donnerstag und lege eine Seite mit Museum und Russenpresse an, zehn Minuten später aber: Anruf von Muqua-Chef Waldner, der unbedingt auf Gerald Matt replizieren will ... War's das? Nein, das war's nicht: Mitten im Redigieren ruft P. an, dass die Korrespondentin jetzt doch keine Zeit für die Pressestimmen hat - etc., etc.

7.) Leider nein. (Quelle: Postmappe Ausgang, April 1998) "Unbestreitbar ist: Nimmerrichter-Sätze wie "die Studenten bestreiten alles, nur nicht ihren Unterhalt" haben sich nachhaltig in der Erinnerung der Austro-Rebellen und deren Biografien festgehakt.

Interessant wäre: zu erfahren, wie sie, als Subjekt und Objekt der damaligen Feindbildpflege, 30 Jahre danach darüber denken - über diesen Satz, über diese Zeit und das, was daraus geworden ist. Schön wäre: Wenn diese Gedenken die Gestalt eines Textes für den STANDARD annehmen könnten. Oder sind die Rituale der aktuellen Feindbildpflege so heilig, dass eher ein "Blattsalat" aus der Krone fällt als ein Staberl auf lachsrosa Papier? (aus einem Brief an Richard Nimmerrichter vulgo "Staberl" anlässlich einer bevorstehenden Kommentar-Serie zum Thema 1968-1998, Aktenvermerk nach telefonischer Nachfrage: "in diesem Leben nicht mehr")

8.) Nachträgliche Einfügung: (Oktober 2013) "Ich habe gemerkt, sagt Karl Markus Gauß, "dass ich mit Ironie und Selbstironie gedanklich weiter gekommen bin als mit Pathos und Schärfe. Ich habe (im ersten Jahr des neuen Jahrtausends, Anm.) viel Beglückendes erlebt, trotz 9/11, Afghanistan und Korruption. Ich muss mit keiner Zeit einen faulen Frieden machen, aber ich muss mich zu ihr in ein Verhältnis setzen, mit dem ich unverbittert leben kann. Und dabei hilft mir die Ironie viel mehr als der Knüppel der strafenden Kritik." Das Zitat stammt nicht aus dem STANDARD, mahnt mich der Chronist. Ich muss ihm recht geben, setzte es aber deswegen an diese Stelle, weil Abkehr vom grassierenden Gleichgesinnungsjournalismus zu den signifikantesten Qualitätsmerkmalen gehört. Das NZZ-Interview, dem sie entnommen sind, war mit einem Zitat von Paul Valéry überschrieben: "Ich bin nicht immer meiner Meinung". - An den STANDARD-Journalismus der kommenden Jahrzehnte: Möge diese Haltung mit dir sein. (Mischa Jäger, DER STANDARD, 19.10.2013)