Komponist Iain Bell: "Die Premiere der ersten eigenen Oper: Das ist etwas Einmaliges, das werde ich nie mehr erleben." 

Foto: Robert Newald

Wien - Wie jung er ist, und wie lebendig! Ein bisschen Puck, ein bisschen fröhlicher Harlekin, ein wenig Tim (ohne Struppi): Das ist Iain Bell. Der junge Engländer steht kurz vor der Premiere seiner ersten Oper: Ist er glücklich, angespannt, oder hat er Fracksausen? Aber wo: Bell ist ein Quell des Enthusiasmus. Negative Gefühle habe er vor dem großen Abend überhaupt keine, so Bell glaubhaft, er sei entspannt und aufgeregt zugleich. Endlich würde sich der Vorhang heben: "Tadaaah!"

Solche und viele andere helle und dunkle, beglückende und beängstigende Geräusche machen in Bells Oper A Harlot's Progress die Wiener Symphoniker, von denen der Londoner ebenso schwärmt wie von der "unglaublichen Besetzung" und dem "wundervollen Regisseur", Jens-Daniel Herzog. Ist denn klanglich und szenisch alles so herausgekommen, wie er sich das in Kopf und Partitur vorgestellt hat? Nun ja, in einer Hinsicht sei er schon überrascht worden, meint Bell ohne Zögern: "Alle meine Erwartungen wurden übertroffen."

Zum Stück: A Harlot's Progress basiert auf einer Serie von Radierungen von William Hogarth. Der Sittenbildmaler des 18. Jahrhunderts zeichnet den Fall einer Unschuld vom Lande nach, die in London zur Prostituierten (Harlot) wird, ein Kind und eine Geschlechtskrankheit bekommt und dem Wahnsinn verfällt. Bell, damals auf der Suche nach einem Thema für seine Oper, sah die Bilder 2008 in einer Ausstellung der Tate Britain, war begeistert und rief sofort seine künstlerische Partnerin Diana Damrau an, um ihr mitzuteilen, dass ihr zukünftiges Bühnenschicksal als syphilitische Hure fix sei.

Damrau zeigte sich begeistert, ihr Agent kontaktierte einige Opernhäuser. Im Theater an der Wien feierte man gerade einen großen Erfolg mit einer Oper, die ebenfalls auf einer Hogarth-Bilderserie basiert: Igor Strawinskys The Rake's Progress. Intendant Roland Geyer gefiel die Idee, beide Opern nacheinander zu zeigen (was diesen Herbst geschieht), und die Sache war entschieden. Ein Zyklus mit Orchesterliedern Bells, The Hidden Place, wurde schon ein Jahr später am Haus aufgeführt, mit dem RSO Wien und Damrau als Solistin.

London ist wichtig

Als Librettist holte Bell den renommierten Autor Peter Ackroyd ins Opernboot, dessen Wälzer über die Geschichte Londons Bell beeindruckt hatte. Denn London spielt, neben der tragischen Moll Hackabout, die zweite große Hauptrolle in Bells neuem Werk. Der Moloch an der Themse ist die "vergiftende Kraft" im Leben Molls, so Bell, sie beschmutzt die Seelen ihrer Einwohner. Die hellen Töne, in denen Bell die Schönheit vom Lande schildert, werden immer wieder angefressen, umschattet von den düsteren Klängen, die er für London verwendet. Florale Schönheit, schon etwas angekränkelt vom Verwelken, vom Verfall - das sei in seiner Musik sowieso ein Grundthema.

Mit dem Anwachsen von Verzweiflung und Wahnsinn in Molls Leben steige auch die chromatische Dichte, erklärt der Komponist. Um die Isolation der Hauptfigur zu beschreiben, habe er deren Gesangslinien in den Orchesterstimmen kaum gedoppelt. Neben Strauss' Zerbinetta habe er vor allem Donizettis Lucia als Vorbild für die für Damraus Stimmbänder maßgeschneiderte Partie herangezogen - die Primadonna assoluta sei in der englischen Opernliteratur ja leider viel zu wenig vertreten. Hatte die deutsche Starsopranistin viele Änderungswünsche für ihre Partie? "Nein. Keinen einzigen."

Eine längerfristige künstlerische Partnerschaft wie mit Damrau strebt der 32-Jährige auch mit Sibylle Gädeke an, die die (fantastischen) Kostüme entworfen hat. "Ich habe da einige Sachen bei den Choristen entdeckt, wo ich sofort gesagt habe: Die will ich!" Gädeke soll nach Möglichkeit von nun an alle seine Opern ausstatten; die nächste, die 2014 in Houston Premiere feiert, ist übrigens schon fertig.

Nicht nur der Kostüme wegen bleibt Bell bis zur letzten Vorstellung der Aufführungsserie in Wien: "Ich habe so viel Mühe und Energie in dieses Werk hineingesteckt. Und die Premiere der ersten eigenen Oper: Das ist etwas Einmaliges, das werde ich nie mehr erleben. Ich will einfach jede Sekunde genießen!" (Stefan Ender, DER STANDARD, 12./13.10.2013)