"Hier frühstückt unser Nobelpreis" (Titelzeile von "Heute"). Hätt' uns gewundert, wenn das nicht gekommen wäre: Martin Karplus, 1930 in Wien geboren, 1938 vor den Nazis in die USA geflüchtet - aber jetzt kriegt er den Nobelpreis für Chemie: "unser" Nobelpreis.

Aber man muss dankbar sein für den Fortschritt. Noch vor zwei, drei Jahrzehnten wäre es keiner österreichischen Massenzeitung eingefallen, einen jüdischen, von den Nazis vertriebenen Nobelpreisträger überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Im Gegenteil: Blanker Antisemitismus war in manchen Zeitungen und an den österreichischen Universitäten bis in die Achtzigerjahre (Waldheim) hinein etwas ganz Normales. Antisemitismus gibt es noch immer, aber wenn das unterirdische braune Rinnsal wieder wo hervortritt, schweigt das offizielle Österreich nicht mehr.

Die Ambivalenz der in Wien lebenden Juden ist dennoch oft spürbar (etwa in der Doku "Jüdische Kultur in Wien - Fromm oder auch nicht" von Jeremy Braunsberg und Peter Stephan Jungk). Die Israelitische Kultusgemeinde Wiens glaubt an eine wachsende Normalität (und veranstaltet an diesem Sonntag zum dritten Mal einen Tag der offenen Tür im Gemeindezentrum mit der schönen klassizistischen Synagoge). Karplus ist übrigens nicht der erste "unserer" Nobelpreisträger, der so vereinnahmt wird. Wenn man gnädig ist, kann man das als peinliches, aber positives Zeichen sehen. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 11.10.2013)