Alle reden von Selbstbehalt, mangelnder Effizienz und Finanzierungsproblemen. Die demokratiepolitische Defizite werden aus der Reformdebatte beharrlich ausgeklammert. - Plädoyer für eine Abkehr vom angeblich so "solidarischen" Prinzip der Pflichtversicherung.


Die Harmonisierung der Pensionssysteme ist berechtigterweise zu einem Anliegen aller politischen Parteien geworden. Unsere Verfassung verlangt und garantiert die Gleichheit aller Bürger, staatliche und öffentliche Versorgungssysteme müssen daher immer wieder auf eventuelle die Ungleichheit fördernde Bedingungen überprüft und im Bedarfsfall korrigiert werden.

Aber nicht nur das Pensionssystem ist von zahlreichen Ungerechtigkeiten gekennzeichnet, auch das öffentliche Gesundheitssystem entspricht in seinen Grundstrukturen dem Gleichheitsgrundsatz keineswegs. Der Staat erzwingt nämlich durch die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Pflichtversicherungssystems eine definitiv unterschiedliche Wertigkeit des Einzelnen hinsichtlich seiner gesundheitlichen Versorgung.

Das gesetzliche Krankenversicherungssystem besteht aus über zwanzig verschiedenen Körperschaften (Kassen), die als öffentlich-rechtliche Institutionen mit halbstaatlichem Charakter fungieren. Für den einzelnen Bürger ist die Kassenzugehörigkeit nahezu schicksalhaft, denn sie wird vom Beruf bzw. Arbeitsort bestimmt, und Wahlmöglichkeit gibt es nicht.

Jede dieser Kassen bietet ihren Zwangsmitgliedern unterschiedliche Konditionen und Leistungen. Je nach Kassenzugehörigkeit erhält der Bürger daher in den verschiedenen Bereichen der Gesundheitsversorgung einen unterschiedlichen Status.

Kantönli-Geist

Im niedergelassenen Bereich (also bei den Kassenärzten) sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Kassen am auffälligsten. Generell kann man hier beobachten, dass die Versicherten der verschiedenen so genannten kleinen Kassen "gleicher" sind als die Versicherten der Gebietskrankenkassen, denn die kleinen Kassen bezahlen meist höhere Arzthonorare für ein und dieselbe Leistung. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die medizinische Behandlung des Gebietskassenversicherten de facto zumindest finanziell weniger wert ist als beispielsweise die Behandlung eines Beamten.

Als Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung wird fast immer angeführt, dass die kleinen Kassen grundsätzlich allgemeine Selbstbehalte einfordern, die Gebietskassen jedoch nicht. Die kleinen Kassen könnten daher bessere Arzthonorare ausschütten.

Relativiert wird dieses Argument aber durch die Tatsache der sehr wohl existierenden "versteckten" Selbstbehalte bei den Gebietskassen - wie Rezeptgebühr, Selbstbeteiligungen bei Hilfsmitteln (Krücken etc.). Nach Berechnungen der Wiener Gebietskrankenkasse ist die Summe dieser Selbstbehalte etwa gleich hoch wie die der Selbstbehalte der kleinen Kassen insgesamt.

Die übrigen zur Verteidigung des bestehenden Systems vorgebrachten Argumente sind nach Analyse des Istzustands ebenfalls absolut widerlegbar bzw. schlichtweg falsch. Um nur das oft bemühte Solidaritätsprinzip herauszugreifen: Im bestehenden System der zahlreichen Körperschaften ist es zum Beispiel den Wiener BVA-Versicherten völlig egal, welche Leistungen die Wiener Gebietskassenversicherten erhalten oder nicht erhalten. Und die Verantwortlichen in den verschiedenen Kassen interessiert die ökonomische Situation der übrigen Krankenversicherungen relativ wenig, denn der in allen korporatistischen Systemen heimische Kantönli-Geist verhindert jedes über die eigene Körperschaft hinausgehende Interesse - außer es geht um Zuschüsse oder Beitragserhöhungen.

Pseudokonkurrenz

Die immer wieder kehrenden fruchtlosen Debatten bezüglich der gegenseitigen finanziellen Unterstützung der Kassen zeigen das deutlich. Im derzeitigen Fleckerlteppich der kassenfinanzierten Gesundheitsversorgung kann das viel beschworene Solidaritätsprinzip gar nicht funktionieren.

Ebenso fragwürdig erscheint das Argument der sich angeblich positiv auswirkenden Konkurrenz zwischen den Kassen. Denn Konkurrenz setzt ja zwei Dinge voraus: Erstens muss der Einzelne seine Versicherung frei wählen können - was er aber eben nicht darf. Und zweitens müssen die Versicherungen um ihre Kunden werben können - was sie aber ebenfalls nicht dürfen und auch nicht müssen, denn es gibt die Pflichtmitgliedschaft.

Unterm Strich bleibt die Erkenntnis: Die in der Politik notorisch strapazierte Rede von der Gleichheit der Bürger in der medizinischen Versorgung und von der sozialen Ausgeglichenheit des Gesundheitssystems klingt gut, entspricht aber, angesichts der hier erwähnten Fakten, in keiner Weise der Realität.

Gegenmodelle

In der gesundheitspolitischen Reformdiskussion ist bisher kaum über die demokratiepolitischen Mängel und die mögliche Änderungen in den unzulänglichen Strukturen der sozialen Krankenversicherung (SKV) gesprochen worden, die Debatten um die Höhe von Selbstbehalten etc. haben bis jetzt den Blick aufs Wesentliche verstellt.

Der gerade ins Leben gerufene Verfassungskonvent wäre ein geeignetes Forum, nicht nur über die Reform der Pensionssysteme zu debattieren, sondern auch grundsätzlichere Diskussionen über die Zukunft des Gesundheitswesens einzuleiten. Warum nicht einmal über gänzlich neue Formen der SKV nachdenken?

Modelle dafür gibt es international genug, man denke beispielsweise nur an die so genannten Health Maintenance Organisations (HMOs), wo regional budgetierte Organisationen die komplette Gesundheitsbetreuung des Bürgers übernehmen.

Eine andere Möglichkeit wäre die Etablierung eines bundesweit verfassungskonformen Versicherungsmodells, das für den Einzelnen die Risikoabdeckung übernimmt und so gewährleistet, dass jeder Bürger im Falle von Krankheit oder Unfall zu den gleichen, einheitlichen Bedingungen versorgt werden kann.

Prinzipiell sind natürlich auch verschiedene Krankenversicherungen mit verschiedenen Leistungsspektren zu begrüßen, wenn die Mitgliedschaft eine freiwillige ist und Wahlmöglichkeit besteht.

Aus demokratiepolitischen Gründen abrücken sollte man aber von öffentlich-rechtlichen Zwangsversicherungssystemen, die de facto bestimmte Bevölkerungsgruppen bevorzugen und andere benachteiligen. (DER STANDARD, Printausgabe, 4.8.2003)