Morgen wird wieder einmal der Literaturnobelpreis an den- oder diejenige verliehen, der/die nach den Worten des Preisstifters "in der Literatur das Beste in idealistischer Richtung geschaffen hat."

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es dabei wieder zu Missstimmungen allerorten, kübelweise Kritik und hämischen Kommentaren kommen – wie wunderbar. Denn einmal im Jahr verlässt die Literatur ihren Elfenbeinturm und betritt ihr so völlig fremde Welten wie die der Buchmacher, in der man schon seit Wochen darauf setzen kann, wer 2013 gewinnen wird. (Wenn es nach den Wettquoten geht, sollte Haruki Murakami schon mal seinen Anzug bügeln.) Und einmal im Jahr werden in der Literaturszene Nägel mit Köpfen gemacht, woraus dann so herrliche Gemeinheiten entstehen, wie dass Verlage auf der Frankfurter Buchmesse mit einem Preisträger oder einer Preisträgerin überrascht werden, den sie seit Jahren mangels Erfolg eher stiefmütterlich behandelt haben oder die sich bei ihnen längst in den dunkelsten Winkeln der Backlist herumtreibt.

Das wäre ja auch furchtbar langweilig

Zum Literaturnobelpreis darf spekuliert, ignoriert, fantasiert, geschätzt und verachtet werden, weil er gar nicht unstrittig sein kann. Es gibt viele hervorragende Autoren und Autorinnen, die diesen Preis verdient haben und hätten. Darüber hinaus haben viele Länder eine eigene literarische Szene und einen eigenen Stellenwert in der Weltliteratur. Nicht zuletzt deshalb lädt sich die Frankfurter Buchmesse jedes Jahr ein besonderes Gastland ein und setzt damit literarische Akzente. Mit so vielen Variablen kann es keine endgültige Formel geben, die der doch sehr willkürlichen Vergabepraxis eine Art vorhersehbaren Automatismus entgegensetzen könnte. Das wäre ja auch furchtbar langweilig. Dann könnte sich ja niemand mehr über die Auswahl von Preisträgern wie Jean-Marie Gustave Le Clézio als "einigermaßen bizarr" und "befremdlich" ereifern oder gleich die Abschaffung des Preises fordern:

"Ja, dann schafft ihn doch am besten gleich ganz ab, den Literaturnobelpreis! Das wäre allemal besser, als die Auszeichnung Jahr für Jahr, Schritt für Schritt zu ruinieren. Mit Entscheidungen wie der diesjährigen für den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clézio führt die Schwedische Akademie die Auszeichnung, die sie alljährlich im Oktober mit großen Tamtam vergibt, ad absurdum und sich selbst gleich mit."

Das Gegenteil ist der Fall. Der Grundton aller Kritik an dem Preis ist ein beleidigtes, wütendes oder irritiertes „Darüber wird noch zu sprechen sein!" Und genau darum geht es: Um das Sprechen über Literatur und Literaten. "Ausgerechnet der!?" oder "Nicht doch die ...!" ist allemal besser als das vollkommene Desinteresse, in das Literatur schleichend hineingleitet. Der Literaturnobelpreis schafft es, die Menschen zu bewegen, weil er zugleich ihren eigenen literarischen Geschmack und ihre Literaturkenntnis bewertet. Wenn ich den Typen mit der Fragezeichenpapiertüte aus den Simpsons, formely known as Thomas Pynchon, für den größten Schriftsteller der Gegenwart halte und der trotzdem nicht den Literaturnobelpreis bekommt, dann mag das durchaus eine Zumutung für ihn sein.

Tipp zur diesjährigen Vergabe

Aber die viel größere Zumutung ist doch, dass mein literarischer Sachverstand, mein Dafürhalten nicht prämiert wird. Frechheit! Wie können diese Schweden es wagen, meine telepathischen Anweisungen Jahr für Jahr zu missachten?! Jeder, der noch bei halbwegs klarem Verstand ist, müsste doch erkennen, dass ... na ja und so weiter.

Und genau deshalb freue ich mich auf die Vergabe des Literaturnobelpreises. Ich werde mich wieder ein bisschen ärgern dürfen, weil ich andere für würdiger halte als die Preisträgerin oder von dem Preisträger noch nie etwas gehört habe. Oder ich werde mich bestätigt glauben und mich in meiner Eitelkeit geschmeichelt sehen.

Zu beidem gehört natürlich, an dieser Stelle einen Tipp zur diesjährigen Vergabe des Literaturnobelpreises abzugeben. Ich tippe auf die kanadische Schriftstellerin Alice Munro oder den syrischstämmigen Lyriker Adonis.

Beide hätten den Preis für ihr literarisches Schaffen verdient und beide erfüllen in unterschiedlicher Weise einige der gesellschaftspolitischen Entscheidungskriterien des Komitees. Würde der Preis Alice Munro zugesprochen, hätten die Preisrichter neben der Tatsache, dass es Munro als eine der wenigen gelingt, ihren Kurzgeschichten und Erzählungen die unauslotbare Tiefe von sehr guten Romanen zu verleihen und zugleich darauf zu verzichten, Textlänge und Romanstruktur einfach nur zu verkürzen und einzudampfen, noch ein anderes halbes Argument in der Hinterhand. Und sie könnten es wohl gut gebrauchen, wenn wieder all die Stimmen laut werden, die vollkommen zu Recht monieren, dass die große alte Riege nordamerikanischer Autoren leer ausgeht.

Die Peinlichkeit, es nicht fertiggebracht zu haben, Autoren wie Norman Mailer, Kurt Vonnegut und vor allem John Updike vor ihrem Ableben den Literaturnobelpreis zu verleihen, wird nur noch durch jene in den Schatten gestellt, die sich seit Jahren durch die kontinuierliche Missachtung von Cormac McCarthy, Don DeLillo, Philip Roth und Thomas Pynchon steigert. Mit Munro könnte man wenigstens darauf verweisen, eine Autorin des nordamerikanischen Kontinents prämiert zu haben, die deutliche Anknüpfungspunkte zur US-amerikanischen Literaturszene hat.

Genau der richtige MannUnd mit der Entscheidung, den Preis Adonis zuzusprechen, würden die Preisrichter so vieles richtig machen, dass die Anzahl der obligatorischen Kritiker und Kritikerinnen an der Preisvergabe wohl nicht ganz so groß wäre wie sonst. 25 Jahre nach der letzten Verleihung an einen arabischsprachigen Autor wäre es höchste Zeit für jemanden, der unbestritten als der bedeutendste arabische Dichter der Gegenwart gilt und zudem immer wieder das tagesaktuelle politische Geschehen kritisch hinterfragt und kommentiert.

Es wäre auch eine Entscheidung für die Macht der Sprache und Kultur und gegen die Exzesse des syrischen Bürgerkrieges. Syrien – und mit ihm der gesamte arabische Raum – ist, war und wird immer mehr als die gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen sein und Adonis ist nicht zuletzt durch seine kunstvollen Rückgriffe und Verweise auf arabische Dichter vergangener Epochen genau der richtige Mann, um daran zu erinnern. Aber wahrscheinlich kommt es dann doch wieder erstens ganz anders und zweitens als man denkt. (Nils Pickert, The European und derStandard.at, 9.10.2013)