Boris Nikitins "Sei nicht du selbst".

Foto: lupi spuma

Graz - Theaterabende, die damit beginnen, dass Schauspieler sich reihum vorstellen, mit ihrer wahren Identität und selbstironischen, intimen kleinen Details aus dem "echten" Leben - sind schon ein wenig abgestanden. Längst hat die Nabelschau es aus der Off-Szene auf etablierte Bühnen geschafft und an Prickeln verloren.

Doch der Schweizer Theatermacher und Kurator Boris Nikitin dreht die Schraube ein bisschen weiter. Und das ist fein so: Sein Stück Sei nicht du selbst, das am Sonntagabend im Steirischen Herbst auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses Premiere feierte, ist eine komische Demontage der Marke Ich, der Lüge des einzigartigen Selbst, das es immer und überall zu präsentieren gilt.

Schon in den 1970ern sei das die allgegenwärtige Aufforderung gewesen: "Sei du selbst", erzählt der Älteste in der Runde, der 48-jährige Schauspieler und Fleischersohn Lorenz Kabas, bis man sich fragte: Was ist das eigentlich?

Die vier Männer und eine Frau suchen dieses Selbst über Eckdaten ihrer Biografien, die sie - nicht ohne kleine amüsante Spitzen gegeneinander - erzählen.

Tote Hasen, blutende Rehe

"Wirtschaftlich ist das Waldviertel tot, dabei gibt es hier die meisten Sonnentage Österreichs", referiert etwa Thomas Frank, seit sieben Jahren Ensemblemitglied in Graz, über seine Heimat, in der er "an die 500 Hasen" töten musste. Kabas beschreibt, wie vor Murau die Bahngleise abbiegen, um nach Kärnten weiter zu verlaufen. Adrian Gillott, Mime aus London, der zugibt, etwas arrogant zu sein, erwähnt darauf kühl lächelnd, dass seine Heimatstadt "die Hauptstadt von England" ist und überhaupt: "Die Finanzkrise hat bei uns begonnen."

Von der Geografie wagt man sich weiter hinein in das schwammige düstere Ich, in die eigene Wohnsituation. Bei der in Floridsdorf aufgewachsenen jungen Wiener Schauspielerin Katharina Klar ist das eine hellhörige WG in Graz. Dann spricht man über Abschiede von Verstorbenen oder vom Unvermögen, adäquat auf ein ausblutendes Reh zu reagieren - wie der deutsche Performancekünstler Julian Meding.

Man wärmt sich in der abgewohnten unpersönlichen Küche, die Boris Nikitin mit Katharina Trajceski in die Bühne baute, ein Fertiggericht. Der Geruch von Essen strömt ins Publikum, und die Gruppe isst und trinkt, Wein, dann Schnaps, das Publikum wird nicht mehr wahrgenommen. Irgendwann wechselt man die Kleidung, tauscht Identitäten und beginnt das Essen noch einmal.

Das Leben sei ohnehin nicht echt, klärt Gillott, der mit einem Mikro aus der Gruppe tritt und immer euphorischer aufzählt, was diese Erkenntnis für Möglichkeiten eröffnet, was man alles vorgeben könnte zu sein: weise, interessant oder einfach der einzige Gesunde unter lauter Kranken. Alles ist möglich. Alles ist gleich.

Am Ende sitzen die Schauspieler wieder aufgefädelt am Bühnenrand, während hinter ihnen die Geräusche des gemeinsamen Mahls - das Klimpern des Geschirrs, die murmelnden Unterhaltungen - vom Band weiterlaufen. Sie haben ihre Figuren verlassen. Das Selbst bleibt unauffindbar. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 8.10.2013)