Berühren im Schauspielhaus Graz als Tochter und Mutter, die dem Krieg nur körperlich entkamen: Saleh (li.) und Stöger.

Foto: Lupi Spuma

Graz - "Niemand braucht einen Staat, ein Staat ist eine schlechte Idee", sagt der Palästinenser Osama Zatar, als ihm Leyla (Seyneb Saleh) eine Studentin aus Graz, die sich in Ramallah engagiert, erklärt, sein Volk bräuchte einen eigenen Staat. "Die Leute sollten sagen: Ich bin ein Mensch und komme von meiner Mutter", kontert Zatar. Leyla kommt von einer schwer traumatisierten Mutter. Von Azra (Birgit Stöger), einer in Graz lebenden Bosnierin, die die wiederkehrende Erinnerung an den Krieg regelrecht lähmt.

Zatar spielte am Samstag im Schauspielhaus Graz sich selbst. In der Uraufführung von Niemandsland der israelischen Regisseurin Yael Ronen, die wieder gezeigt hat, dass sie keine Theatermacherin, sondern mindestens eine Theaterzauberin ist.

Überleben im Wahnsinn

Wer dachte, Ronens gescheites und witziges Stück Hakoah Wien, mit dem sie im Vorjahr in Graz mit ihrem Bruder Michael die Geschichte ihres Großvaters, eines Wiener Juden, der rechtzeitig vor dem Ausbruch des Nazi-Terrors nach Palästina ging, und jene der eigenen Generation erzählte, war ein Glücksfall, irrte. Niemandsland ist ein genauso treffsicheres Werk über die komplette Sinnlosigkeit von Krieg und Nationalitäten und die Kraft von Lieben und Leben, die sich mitten im Wahnsinn ihre Existenz erkämpfen.

Wieder verknüpft Ronen dabei scheinbar mit Leichtigkeit mehrere Schicksale. Nicht auf dem Reißbrett, sondern auf Proben, bei denen auch Schauspieler Ideen und Geschichten einbrachten - nicht nur ihre eigenen, wie im Fall von Osama Zatar und seiner israelischen Ehefrau Jasmin Avissar. Beide stehen mit ihrer eigenen Geschichte, die eine der jahrelangen Suche nach einer Heimat für ihre Liebe ist, auf der Bühne.

Beim Rest der Besetzung verließ sich Ronen weitgehend auf das aus Hakoah Wien eingespielte Team aus Schauspielern des Grazer Ensembles und aus Berlin, wo Ronen - selbst mit einem Palästinenser verheiratet - arbeitet. Ronen lässt jedem einzelnen der Schauspieler Raum für das Beste.

So auch Stöger, die sich einen Akzent für die Rolle der Azra aneignete, der eine Mischung aus Bosnisch, Steirisch und Traurigkeit ist. Ohne jeden Anflug von Parodie. Wenn Azra Jörg (Knut Berger), dem Unidozenten ihrer Tochter, der über Nachkriegsgenerationen forscht, trocken ihren Beruf erklärt, entsteht eine dieser Ronen-Situationen im Stück, in der man trotz aller Tragik lachen muss. Sie "tette schedlingge", so die Kammerjägerin.

Später bringt Stöger Zuseher zum Weinen, wenn sie beschreibt, wie sie die Schwangerschaft mit der - vermutlich durch eine Vergewaltigung im Krieg gezeugten - Tochter ablehnte, bevor sie den "perfekten kleinen Fuß" des Babys im Bauch spürte. Ebenso beeindruckend ist Jan Thümer als Leylas Liebhaber Fabian, ein Journalist, der nach Kriegseinsätzen einen Zusammenbruch erleidet und sich mit Alkohol und Zynismus tröstet.

Auf Schwarz-Weiß-Malerei verzichtet Ronen stets: Quasi im Vorbeigehen räumt sie mit dem Hype um modernen Netzjournalismus auf. Als Fabian für eine Laudatio für eine "lesbische syrische Bloggerin", die den International Press Freedom Award bekommt, probt, kotzt er seinen Smoking voll und fragt, warum man "keine echten Journalisten" mehr in den Krieg schicke.

Die angeblich entführte Bloggerin entpuppt sich als Anwalt (böse-gut: Julius Feldmeier) in Graz, der mit der imaginären Mandantin zum Medienstar der Menschenrechtsszene wird.

Auch "Betoffenheitstheater", von dem Ronen mit ihrer Mischung aus Radikalität, Gefühl und Humor meilenweit entfernt ist, kriegt sein Fett ab: Schauspieler Milos (Sebastian Klein) probt in einem Kellertheater mit schlecht geklebter Glatze zu Celloklängen ein Stück über einen serbischen Kriegsverbrecher. Dann erfährt er, was sein Vater im Krieg tat. Nicht nur ein kurzweiliger, ein atemloser Abend. (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 7.10.2013)