Familientherapeut, Autor und derStandard.at-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Eine Leserin schreibt:
Ich habe eine relativ komplizierte Beziehung zu meiner Schwiegermutter. Es fällt mir daher nicht leicht, objektiv über sie zu schreiben. Meine Schwiegermutter drückt niemals aus, dass sie jemanden liebt. Ich glaube, dass sie ziemlich kalt ist. Sie arbeitet im sozialen Bereich, und durch ihre Arbeit trifft sie viele Menschen. Sie sagt selbst, dass sich diese von ihr gestresst fühlen. Meist ist sie schroff und sagt verletzende Dinge. Sie will in alles, was wir tun, einbezogen werden und kritisiert uns ständig.

Mein Mann und ich haben zwei Söhne, zwei und vier Jahre alt. In unserer Familie gibt es ein paar wichtige Regeln. Ja bedeutet Ja, und Nein heißt Nein. Wir legen Wert auf Höflichkeit. Da es bei meiner Schwiegermutter keine Regeln gibt, verhält sich mein älterer Sohn bei ihr ganz anders als sonst. Wenn er nach Hause kommt, kommt er zwar schnell wieder zur Ruhe. Er wirkt aber verwirrt und frustriert - weil er bei meiner Schwiegermutter alles bekommt, was er will und wann er will. Ich habe meiner Schwiegermutter schon öfter gesagt, dass aus meiner Sicht die bei ihr herrschende "Anarchie" meinem Sohn nicht guttut. Ohne Erfolg.

Ich frage mich, ob dieses Verhalten meinen Sohn negativ beeinflussen kann. Meine Schwiegermutter behandelt auch meinen Schwiegervater sehr schlecht. Mein Sohn sieht das und erzählt mir, wie schrecklich die beiden sind.

Dazu kommt, dass meine Schwiegermutter nur meinen älteren Sohn sehen will. Es scheint, als wolle sie unseren Kleineren nicht bei sich haben. Sie verlangt nur nach dem Großen. Er kann zu ihr kommen, wann immer er will. Sie sagt ihm auch, dass vieles von dem falsch ist, was ich ihm erlaube. Sie hat ihm beispielsweise gesagt, dass es "sehr dumm" ist, wenn die Brüder sich beim Verkleiden Frauenkleider anziehen. Sie findet es nicht okay, wenn ich ihnen das erlaube.

Wenn ich mit ihr alleine bin, ist sie eine nette Frau, dann mag ich sie sehr. Ich glaube, sie hat eine raue Kindheit erlebt. Vielleicht ist es auch schwierig für sie, dass ich so offen bin und sie so akzeptiere, wie sie ist.

Jesper Juul antwortet:
Im letzten Teil Ihres Briefes bekommen Sie die Antwort auf Ihre eigentliche Frage. Die Tatsache, dass es Ihrer Schwiegermutter schwerfällt, mit freundlichen Worten und warmen Gefühlen umzugehen, ist das Resultat ihrer Kindheit. Sie hat einen Überlebensmechanismus entwickelt, durch den sie andere Menschen auf Distanz hält. Es erscheint paradox, ist aber eine logische Konsequenz, dass sie just einen Beruf mit Menschen gewählt hat.

Sie hat sich ein Leben gestaltet und eine Haltung entwickelt, die ihre Unfähigkeit als menschliches Wesen rechtfertigen. Das ist wahrscheinlich ohne bewusste Planung geschehen. Sie versteht nicht, dass Ehrlichkeit ohne Liebe keinen Wert hat - für sie selbst und jene Menschen, die sie umgeben. Letztlich erfährt Ihre Schwiegermutter als ältere Frau die gleiche Einsamkeit und Isolation wie schon als Kind. Ein trauriges Leben - aber sie kann damit vermeiden, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Solange sie "teilen und herrschen" kann, kann sie die Realität ausblenden.

Macht über die Familie

Ein Aspekt des Unglücks Ihrer Schwiegermutter ist, dass sie sehr viel Macht in ihrer eigenen und auch in Ihrer Familie hat. Ob Ihre Söhne darunter leiden oder nicht, kann ich unmöglich sagen. Sicher ist, dass die Haltung Ihrer Schwiegermutter Sie, Ihren Mann und Ihren Schwiegervater beeinflusst.

Für Ihren älteren Sohn ist die Beziehung mühsam. Er kann sich aber glücklich schätzen, dass er Eltern hat, die ihm helfen, seine Verzweiflung und Traurigkeit zu verarbeiten. Ich weiß nicht, inwieweit seine Erfahrungen seine künftigen Beziehungen zu Frauen beeinflussen werden. Die wichtigste Person im Leben Ihres Sohnes ist jedenfalls nicht seine Großmutter, sondern das sind Sie: seine Mutter und sein Vater.

Der Versuch, Ihre Schwiegermutter herauszufordern, weil sie Ihre Söhne unterschiedlich behandelt, wird nicht erfolgreich sein. Denn diese Strategie basiert auf Moral und wird Ihre Schwiegermutter nicht beeindrucken. In ihrer Welt sind einige Menschen im inneren Kreis, während sie alle anderen als dumm ansieht.

Konfrontation in fünf Sätzen

Meiner Erfahrung nach gibt es aber sehr wohl eine Sache, die Beziehungen wie die zwischen Ihnen und Ihrer Schwiegermutter positiv beeinflusst: eine Konfrontation mit ihr, die direkt, persönlich, warm und bedingungslos ist. Sie müssen ihr sagen, wie Sie sich fühlen, was in Ihnen vorgeht und wie Sie es gerne hätten. Das hätten Ihr Schwiegervater und Ihr Ehemann schon vor Jahren tun sollen! Wenn sie dazu nicht mutig genug waren, haben die beiden zur Isolation Ihrer Schwiegermutter beigetragen.

Versuchen Sie, bei der Konfrontation mit maximal fünf Sätzen auszukommen. Diese müssen direkt vom Herzen kommen und nur das ausdrücken, was sie wollen und nicht wollen. Wenn Ihre Schwiegermutter nicht in der Lage ist, dieses großzügige Angebot anzunehmen, wird sie diejenige sein, die am meisten leidet. Aber auch Sie werden weiter leiden, denn es braucht viel Ihrer Zeit und Energie, das destruktive Verhalten Ihrer Schwiegermutter auszugleichen. Mein Vorschlag ist, dass Sie damit beginnen, Ihren Ehemann daran zu erinnern, dass seine Loyalität Ihnen gelten soll. Das ist nicht alleine Ihr Problem - denn es beeinträchtigt die ganze Familie und ist auch ein Teil Ihrer Familie. (Jesper Juul, derStandard.at, 6.10.2013)