Der Anteil von Roma und Sinti an der schwedischen Gesamtbevölkerung ist gering.

Grafik: DER STANDARD

Leila ist gerade einmal neun Monate alt. Gleichwohl ist sie mit Geburtsdatum und Stammbaum schon in einem schwedischen Polizeiregister über Roma erfasst, das die Namen von mehr als 4000 Personen - darunter 1000 Kinder und Jugendliche - enthält und dessen Existenz die schwedische Tageszeitung "Dagens Nyheter" im vergangenen Monat enthüllt hat.

Grund für die Registrierung war weder eine begangene Straftat noch ein Verdacht, sondern allein die ethnische Zugehörigkeit - laut schwedischem Recht eindeutig ein gesetzwidriges Verfahren. "Wie ein Messerstich ins Herz" habe es sich angefühlt, Leilas Namen dort zu finden, sagt ihre Mutter Adele Demeter.

"Was machen die da eigentlich?"

Der Skandal um das im südschwedischen Skåne erstellte und von Polizisten im ganzen Land genutzte Verzeichnis hat Wogen bis ins Ausland geschlagen. "Uns rufen Roma aus Ländern wie Tschechien und Rumänien an, wo man Diskriminierung gewohnt ist", so der Vorsitzende des Roma-Jugendverbandes, Erland Kaldaras. "Sie dachten, hier würden Roma gut behandelt. Jetzt fragen sie: 'Was machen die da eigentlich mit euch in Schweden?'"

Unter Schwedens schätzungsweise 50.000 Roma stellt man sich bange Fragen über die Nutzung der Daten, möglicherweise auch durch andere staatliche Stellen. Zerstört ist ein Großteil des Vertrauens, das in jüngster Zeit langsam gewachsen war. Annäherungen zwischen Roma-Repräsentanten und dem bürgerlichen Kabinett unter Fredrik Reinfeldt hatte es etwa im Zuge eines Plans gegeben, den die Regierung 2012 lancierte: Im Jahr 2032 soll ein 20-jähriger Roma-Angehöriger die gleichen gesellschaftlichen Chancen haben wie jeder andere Einwohner; Fördermaßnahmen sind vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen geplant.

Belastete Geschichte

Bisher gehen viele Kinder der seit 1999 als nationale Minderheit anerkannten Gruppe nur sporadisch oder gar nicht in die Schule, und die Arbeitslosigkeit wird auf 80 Prozent geschätzt.

Im Rahmen des Integrationsplans arbeitet die Regierung auch an einem Weißbuch, das Übergriffe auf Roma in Schweden in den vergangenen 500 Jahren dokumentieren soll. Reichlich Stoff bietet dabei der Blick ins 20. Jahrhundert. So durften Roma zwischen 1914 und 1954 nicht einreisen. Das Rassenbiologische Institut, 1922 als weltweit erstes seiner Art in Uppsala gegründet, lieferte die Grundlagen für ein staatliches "Eugenikprogramm", in dessen Rahmen ab 1935 Zehntausende als "rassisch minderwertig" oder "sozial abweichend" Eingestufte, darunter Roma, zwangssterilisiert wurden.

Erst 1976 schaffte Schweden das entsprechende Gesetz ab. Mehrfach wurden Roma im Staatsauftrag registriert, und noch bis 1996 erfasste die damalige "Zigeunersektion" der Stadt Stockholm Menschen unter der Bezeichnung "Voll-Z." und "Halb-Z.". "Ich schäme mich für Schweden", kommentierte Integrationsminister Erik Ullenhag die unrühmliche Vergangenheit.

Skandal als Beleg für Diskrepanz

Nun müsse Schweden den Blick auf den Antiziganismus richten, der heute - nicht zuletzt in staatlichen Organen wie der Polizei - nach wie vor weitverbreitet sei, betonen namhafte Gesellschaftswissenschafter in einem gemeinsamen Aufruf. Der Politologe Andreas Johansson Heinö sieht den Skandal als weiteren Beleg für die "Diskrepanz zwischen dem Selbstbild als tolerantes Volk und der Wirklichkeit im multikulturellen Schweden".

Die Justizministerin des Landes, Beatrice Ask, hat sich bei Schwedens Roma entschuldigt und eine lückenlose Aufklärung der Hintergründe des Skandals versprochen. Doch die damit angekündigten innerpolizeilichen Untersuchungen reichen den Repräsentanten der Roma nicht aus: Sie fordern eine unabhängige Untersuchungskommission. (Anne Rentzsch aus Stockholm, DER STANDARD, 4.10.2013)