Im Thayatal im nördlichen Waldviertel finden die raren Schwarzstörche eine urwüchsige Landschaft. Hier trauen sie auch einmal Menschen über den Weg.

Foto: Neffe-Marek

Bis zum anderen Ufer sind es nur 14 Kilometer: Die Straße von Gibraltar ist die Verbindung zwischen Mittelmeer und Atlantik - und gleichzeitig Grenzgraben zwischen Europa und Afrika. Zahlreiche Schiffe sind täglich auf der Meerenge unterwegs. Im Luftraum darüber herrscht ebenfalls dichter Verkehr, vor allem in dieser Jahreszeit. Es ist die Zeit des Vogelzugs. Millionen Gefiederte sind auf dem Weg in den Süden, um dort zu überwintern.

Auch viele Schwarzstörche (Ciconia nigra) nehmen die Gibraltar-Route. Die eleganten Großvögel haben im Sommer in Spanien oder Frankreich gebrütet, in Deutschland, Tschechien oder Österreich. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahrzehnten langsam, aber stetig gewachsen.

Der Hintergrund: Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dringt der Schwarzstorch aus Osteuropa kommend immer weiter nach Westen vor. Wo es sich hierbei um eine Wiederbesiedlung und wo es sich um die Erschließung neuer Lebensräume handelt, ist noch nicht eindeutig geklärt - ebenso wenig wie die Ursachen dieses fortwährenden Trends. Vermutlich spielt dabei eine wesentliche Rolle, dass die Art nicht mehr bejagt wird und in der gesamten EU unter Schutz steht.

In Deutschland wurde der Schwarzstorch um 1900 ausgerottet. Aus Österreich liegen keine historischen Brutnachweise aus der Zeit vor 1938 vor, in Böhmen und Mähren dagegen scheinen die Brutbestände vor etwa 150 Jahren erloschen zu sein. Vorübergehend. Ein letzter Rest hielt sich jedoch in der Nähe von Znojmo (Znaim). Eine größere isolierte Teilpopulation brütet seit eh und je auf der Iberischen Halbinsel. Ansonsten kommt Ciconia nigra in Asien bis zur Pazifikküste vor.

Hotspot Waldviertel

Momentan gibt es in Österreich jährlich rund 150 Schwarzstorch-Brutpaare. Ein Schwerpunkt der Verbreitung hierzulande ist das Waldviertel. Dort befindet sich auch der grenzübergreifende Nationalpark Thayatal-Podyjí, wo die Vögel geradezu optimale Lebensbedingungen vorfinden. "Der Schwarzstorch braucht an seinem Horst absolute Ruhe", betont der Biologe Christian Übl von der Nationalparkverwaltung.

Und die finde er in der urwüchsigen Landschaft des Schutzgebiets. Die Tiere bauen ihre Nester bevorzugt in abgelegenen Wäldern, auf alten, hohen Bäumen. Solche gibt es an den Hängen oberhalb der Thaya und in den Seitentälern genug. Abgesehen davon bietet der Fluss den Schwarzstörchen einen reich gedeckten Tisch. Fisch gibt es zur Genüge. Die gefiederten Einsiedler ernähren sich im Nationalpark gerne von Forellen und Mühlkoppen (Cottus gobio), erklärt Übl. Zusätzlich stehen Amphibien wie Gras- und Laubfrösche auf dem Speiseplan.

Kürzere Fluchtdistanzen

Interessanterweise können die sonst so scheuen Vögel im Parkareal relativ häufig gesichtet werden. In Hardegg überfliegt am Sonntag manchmal einer in nur 20, 30 Metern Höhe den Friedhof und schaut neugierig auf die Kirchgänger, wie Christian Übl berichtet. Auch an den Flussufern seien die Tiere regelmäßig bei der Futtersuche zu beobachten. "Die Fluchtdistanzen sind gesunken", sagt der Experte. Seit Einrichtung des Nationalparks im Jahr 2000 von 400 auf nur noch etwa 100 Meter. Die Tiere haben anscheinend gelernt, dass Wanderer auf den Wegen bleiben, und fliegen nicht mehr auf. So sparen sie Energie.

Wenn im September der Herbstzug beginnt, gehen die Schwarzstörche ebenfalls sehr sorgsam mit ihren Kräften um. Die Reise in die afrikanischen Winterquartiere dauert, je nach Wetterumständen, ein bis zwei Monate. Unterwegs wird ausgiebig gerastet. Viele in Mitteleuropa brütende Schwarzstörche wählen den östlichen Weg um das Mittelmeer herum.

Sie fliegen über den Bosporus und die Levante. Beringte Jungvögel aus dem Nationalpark Thayatal wurden im vergangenen Herbst beim Zwischenaufenthalt im Jordantal gesichtet. Von einigen böhmischen Tieren ist allerdings belegt worden, dass sie via Gibraltar ziehen - wie ihre Artgenossen aus Ostfrankreich auch. Die Route über Italien und Sizilien scheinen die Schwarzgefiederten nur selten zu nehmen.

"Schwarzstörche sind Gleitflieger, die die Thermik ausnützen, um große Distanzen bei minimalem Energieverbrauch zurücklegen zu können", erklärt der Zoologe Luis Santiago Cano von der Universidad Complutense in Madrid. Über dem Meer gibt es solche Luftströmungen nicht, daher versuchen die Vögel, möglichst wenig über dem Wasser zu fliegen, sagt der Forscher.

Für welche Route sich die Tiere entscheiden, ist anscheinend nicht nur eine Frage der Distanz. Die sogenannte Migrationsgrenze verläuft grob über Mitteleuropa, doch in Osttschechien brütende Schwarzstörche können durchaus über Gibraltar reisen, während weiter im Westen übersommernde Vögel ostwärts fliegen. Tschechische Biologen stellten fest: Sogar die Elterntiere eines Brutpaares wählen manchmal unterschiedliche Strecken. Warum, weiß niemand.

Mit Satelliten-Peilsendern versehene Schwarzstörche haben Wissenschaftern detaillierte Einblicke in den Ablauf der Reise auf der Westroute geboten (vgl. u. a. Journal of Avian Biology, Bd. 44, S. 189). In Europa nehmen sich die meisten Vögel zunächst noch Zeit. Sie halten in Feuchtgebieten und an Teichen, vor allem in Südspanien. Manchmal tagelang. Nachdem die Straße von Gibraltar überquert ist, haben es die Wanderer allerdings eilig. Die Wüste wird rasch überflogen, einzelne Tiere machen höchstens in Oasen kurz Pause. Die Sahara ist für Fischer kein guter Ort.

Festmahl in der Sahelzone

Bei Ankunft in ihren Winterquartieren im Sahelgürtel dagegen erwartet die Schwarzstörche ein wahres Festmahl. Der Sommerregen hat zahllose kleine Flüsse ansteigen lassen, und die großen Ströme wie der Niger haben Sumpfflächen überflutet. Das bedeutet: Fische überall. Die Störche machen dann vor allem Jagd auf kleine, langsam schwimmende Welse. Leichte Beute, die sich ohne große Anstrengung erwischen lässt. Dank des üppigen Futterangebots können die Vögel Reserven für den Frühlingszug aufbauen. Die Rückkehr nach Europa erfolgt über dieselben Routen wie die Anreise im Herbst, und im März treffen die Fernflieger wieder in Österreich ein. Der Kreis schließt sich. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 2.10.2013)