Eines gleich vorweg: Über Zeit und Pace brauchen wir hier nicht zu diskutieren. Dass 4:37 Stunden keine Hammerzeit darstellen, ist klar. Schon gar nicht für einen Marathon, der auch bei Hobbyläufern als schnell gilt. Nur ist das in diesem Fall vollkommen egal: Schön ist wichtiger als schnell. Und gemeinsam besser als einsam. Tempo bolzen kann man bald wo! Aber sich bei Kaiserwetter Berlin zusammen mit jenen guten Freunden zu erlaufen, die einen dort hingebracht haben, ist zigmal feiner als die Frage, ob vor der Endzeit ein Dreier, ein Vierer oder ein Fünfer steht. Denn: Anstrengend sind 42 Kilometer in jedem Fall.

Natürlich meldete sich das Knie dann wieder. Nachdem es tage-, ja wochenlang Ruhe gegeben hatte (siehe Kolumne von voriger Woche). Aber Helena wischte meine Ja/Nein/Weiß-nicht-Überlegungen vom Tisch. Per SMS. Manchmal bin ich froh, wenn man mir Entscheidungen abnimmt.

Foto: Thomas Rottenberg

Wer in Berlin läuft, fragt sich, woher in die Veranstalter des Vienna City Marathons die Chuzpe nehmen, Wien - sinngemäß - als zumindest gleichrangigen Event  zu verkaufen. Oder nicht vehement "Einspruch" rufen, wenn heimische Medien alle Jahre wieder dieses Bild zeichnen. Wie grotesk das ist, zeigt Berlin an jeder Ecke: Wien brüstete sich 2013 mit 41.326 Startern. Bloß: Nur ein Viertel (10.588) trat tatsächlich beim Marathon an (Halbmarathon: 14.907; Staffel: 12.556 - sowie 3.375 Kinder bei den Kinderläufen. Keine Rollstuhlfahrer oder Skater.

Berlin verzichtet auf Etikettenschwindel: Wo Marathon draufsteht, ist Marathon drin. 36.544 Läuferinnen und Läufer kamen hier heuer ins Ziel. Plus ein paar tausend Rolli-Fahrer, Skater und Handbiker.

Vorher aber galt es, Geduld zu haben: Startnummer abholen geht nur persönlich. Mit Ausweis, Chip und Anmeldebestätigung. Aber auch wenn ich hier kurz an einer Panikattacke vorbeischrammte: Das dauerte keine 30 Minuten. 

Foto: Thomas Rottenberg

Auch die Berliner Marathonmesse und alles Drumherum ist - höflich formuliert - ein bisserl größer als bei dem teilnehmerzahlenmäßig angeblich fast gleich potenten Bewerb in Wien. Zum Glück war das Wetter großartig. Darum spielte sich das Geschehen nicht bloß in einem Messehallenkomplex ab, sondern auch ...

Foto: Thomas Rottenberg

... an einem meiner Lieblingsorte in Berlin: dem alten Flughafen Tempelhof. Einem Ort, der nicht nur wegen der Luftbrücke ein Stück europäischer Geschichte ist - und das "Wow-Gefühl" des Platzes bildet mit dem "Wow" des Laufevents ein stimmiges Amalgam.

Foto: Thomas Rottenberg

Nur zum Laufen nach Berlin zu kommen wäre ein bisserl wenig. Bei einer der 2.711 Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas einen kleinen Stein abzulegen ist für mich Teil meines Berlin-Rituals. Das Nichtvergessen wird in Berlin aber ohnehin großgeschrieben: Auf die Aktivitäten, Ausstellungen, Lebensgeschichten und Stadtmarkierungen des Themenjahres "Zerstörte Vielfalt" stößt man an allen Ecken.

Foto: Thomas Rottenberg

Umso schöner ist es, am Weg zum Brandenburger Tor die friedliche und fröhliche Vielfalt von Menschen aus tausendundeiner Nation zu erleben. Und auch wenn der historische Marathon eine kriegerische Vorgeschichte hat: Dass die blaue Linie, die die Ideallinie markiert, zum und durch das Brandenburger Tor führt, ist für mich immer noch ein etwas pathetisch-kitschiges, aber eben doch schönes und starkes Bild.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Knapp vor dem Lauf denkt keiner wirklich an Geschichte: "Warm werden" lautet bei knackigen sieben Grad die Devise. Mit den alten Pullis, Mützen und Handschuhen, die da vor dem Start abgeworfen werden, könnte man vermutlich eine Kleinstadt durch den Winter bringen.

Foto: Thomas Rottenberg

Start ist um 8.45 Uhr. Für die Elite. Wir hätten in Startblock F antreten dürfen - und wären vermutlich so gegen 9 Uhr losgerannt. In einem kompakten, drängelnden Block von Ehrgeizlern voll Wettkampfadrenalin. Stattdessen reihten wir uns hinten ein. Startblock H. Bei den "Newbies", den Spaß- und Genussläufern. Wir waren unter den Letzten, die gegen 9.15 Uhr über die Startlinie kamen: Kurz nach uns wurde der Start geschlossen. Trotzdem feuerten Platzsprecher, Streckenposten und Publikum uns an, als wären wir die ersten Läufer, die da ins Rennen gehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Und los geht's!

Foto: Thomas Rottenberg

Hintenraus zu starten ist fein: In Wien begannen wir auch aus der letzten Reihe, weil sich der Block der langsamen Läufer viel schneller auseinanderzieht als die dicht gedrängten, nach Kilometerzeiten geordneten Wettkampfblöcke. Man muss dann zwar Slalom laufen, kommt aber, wenn man es will, halbwegs rasch und ansatzweise zügig weiter.

Was aber noch netter ist: Hinten sieht man mehr und ...

Foto: Thomas Rottenberg

... hat mehr zu lachen. Auch weil einem dazu genügend Luft bleibt. "Und falls sie euch ausgeht: Ich hab in meinem Sauerstofftank gut abgefüllte Berliner Luft", bot Frank Hilfe an. Der Feuerwehrmann lief in voller Montur die volle Distanz. Einzig die Laufschuhe entsprachen nicht der regulären Einsatzausrüstung eines Feuerwehrmannes mit Atemschutz.

Foto: Thomas Rottenberg

Am Tag des Marathons - und am Tag davor - steht in Berlin alles, was nicht läuft. Busse und Straßenbahnen fahren schon Samstagnachmittag höchstens eingeschränkt, damit Kinder und Skater ungehindert unterwegs sein können. Während es in Wien immer jemanden gibt, der das für eine Zumutung hält, habe ich in Berlin keinen einzigen Local gesehen, der sich beschwert hätte. Ja, auch abseits der Marathonerei.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Strecke durch Berlin ist wunderschön, die Stadt einfach großzügiger und weiter an- und ausgelegt als viele andere Metropolen. 42 Kilometer laufen zu können, ohne dass man zweimal an der gleichen Stelle vorbeikommt, ist ein Geschenk. Und wenn dann auch noch das Wetter passt, ist die Welt mehr als nur in Ordnung.

Foto: Thomas Rottenberg

Außerdem ist der Marathon eine Party: Mehr als 60 Bands spielten am Straßenrand. Dazu kamen zahllose vor Lokale oder auf Balkone gestellte Soundsysteme mit fetten Partys, von denen aus die Läuferinnen und Läufer (fast 25 Prozent der Finisher waren Frauen) angefeuert wurden. Nicht nur vorne: Hier, wo Lichtenberger Straße und Karl-Marx-Allee zusammentreffen (Kilometer 12), waren wir rund eineinviertel Stunden unterwegs - das Rennen dauerte schon eine halbe Stunde länger. Doch auch sonst trommelten, feierten und jubelten die Zuseher überall so, als wären sie nur für uns gekommen.

Foto: Thomas Rottenberg

Dafür bekamen sie aber auch eine nette Show. Das honorierten nicht nur die "Zivilisten": Die Einladung, sich vor den Polizeibus zu stellen, kam von Polizisten. Aufs Bild wollten sie aber doch nicht: "Uns rinnen vor Lachen doch die Tränen runter - wie sieht denn das dann aus!"

Foto: Thomas Rottenberg

Dass die "Insassen", aber auch als Freigänger oder Flüchtige gut unterwegs waren, bewiesen sie locker: So wie wir waren die fünf Herren weit hinten gestartet - und obwohl sie ihre Kugeln ständig halten mussten, kamen sie einen guten Tick schneller voran als wir.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch wenn es sich in der ersten Hälfte nie so anfühlt - und schon gar nicht, wenn es angenehm frisch ist: Wer nicht rechtzeitig trinkt und isst, verdurstet oder verhungert. Bei großen Events ist das Nichtverdursten manchmal ein bisserl mühsam: Wenn vorne schon 25.000 Menschen im Laufen getrunken haben, ist die Straße nass. Das ist wurscht. Schlimmer ist es, wo Gel oder Energydrinks verteilt werden. Da pickt der Asphalt so, dass es nicht nur einem Läufer die Schuhe auszieht. Bloß: Was wäre Plan B?

Foto: Thomas Rottenberg

:-)

Foto: Thomas Rottenberg

Halbzeit. "Bitte, das ist ja echt ein Spaziergang! Und zwar ein wunderwunderwunderschöner!", jubelten Helena und Cornelia. Im Training hatten wir schon weit längere Distanzen absolviert, aber bei Bewerben waren die beiden noch nie weiter als über die Halbmarathondistanz gelaufen.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich: Überhaupt so weit zu kommen ist in erster Linie eine Frage der Vorbereitung und der richtigen Einteilung. Aber dann kommen schon Außenfaktoren: Wetter, Stimmung und Organisation. Die Versorgung entlang der Strecke funktionierte perfekt. Das ist nicht selbstverständlich, berichten Teilnehmer des Wien-Marathons: Ich habe es nicht selbst erlebt, aber mehr als ein Läufer erzählte mir von angeblich ratzeputz leergeräumten Versorgungsstellen in Wien.

Foto: Thomas Rottenberg

Manche Läufer brauchen auch bei 12 Grad Celsius Abkühlung. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk waren zur Stelle und feuerten speziell die Läuferinnen an, die Showdusche zu nutzen. Aber böse-sexistisch kam das bei niemandem an: Kontext und Augenzwinkern machen eben den Unterschied aus.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir waren hier fast drei Stunden unterwegs. Aber die Cheerleaderinnen waren schon dreieinhalb im Einsatz. "Anfeuern ist auch anstrengend", stand irgendwo auf einem Transparent. Stimmt. Drum jubelten wir auch brav zurück.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich gab es auch offizielle Kilometerangaben. Aber die inoffiziellen waren lustiger. Und: Manchmal spornt "nur noch" mehr an als "schon". "Umkehren wäre jetzt auch blöd" hat auch was, aber mein persönlicher Favorit kam bei Kilometer 34: "Scheiß Idee?", stand auf einem Schild. Nicht alle fanden das lustig. Wir schon.

Foto: Thomas Rottenberg

Kurfürstendamm. 35 Kilometer in den Beinen. Cornelia und Helena liefen super. Rund, entspannt - und mit fettem Lächeln in den Gesichtern. Klar: Hier sagt keiner mehr "Spaziergang" - wurscht bei welchem Tempo. Man spürt Stellen im eigenen Körper, von deren Existenz man bis dato nichts wusste. Und jeder weiß, dass der "Mann mit dem Hammer" jederzeit und ohne Vorwarnung zuschlagen kann.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch deshalb gibt es entlang der Strecke Massage- und Rastplätze. Und immer mehr Läufer wurden zu Gehern. Das ist vollkommen normal. Wir hatten uns das Rennen aber wohl wirklich super eingeteilt: Wir liefen und liefen und liefen - im etwa gleichen Tempo wie auf den ersten Kilometern. Nicht schnell, aber das war auch nicht der Plan gewesen. "Ich bin weit unter meinem Wettkampf-Puls", staunte Helena nach einem Blick auf die Pulsuhr. 

Foto: Thomas Rottenberg

Andererseits: Eine kleine Pause hätten wir uns schon gewünscht. Schließlich waren jetzt auch Berliner, die da zum Marathonfrühstück an den Straßenrand ausgerückt waren, schon erschöpft. Doch: Aufhören kam nicht infrage. Nicht für sie, nicht für uns.

Foto: Thomas Rottenberg

Potsdamer Platz, Leipziger Straße. Noch zwei Kilometer. Immer noch lächelnd: Ja, wir haben definitiv ziemlich viel ziemlich richtig gemacht.

Foto: Thomas Rottenberg

Immer noch sind Menschen in Kostümen vor und um uns: Mit diesen Schuhen könnte ich nicht einmal schmerzfrei sitzen.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Brandenburger Tor in Sichtweite. Danach sind es nur mehr hundert Meter. Ab hier tut nix mehr weh. Auch die, die gerade nur mehr gegangen sind, beginnen wieder zu laufen. Und: Ja, rund um mich sind lauter Helden. Jede und jeder. 

Foto: Thomas Rottenberg

Die letzten Meter. Rechts vor Cornelia spielt sich eine meiner liebsten Marathon-Zielszenen ab: Ein Kind ist über die Bande geklettert und zieht den Papa an der Hand die letzten paar hundert Meter. Natürlich ist das verboten. Weiter vorne wäre das sogar gefährlich. Aber: Hier geht es nicht um Zeiten und Plätze, sondern um Gefühle.

Foto: Thomas Rottenberg

Yeah, yeah, yeah! (Nebenbei: Der Kleine, der den Papa ins Ziel geholt hatte, bekam auch eine Medaille umgehängt. Mit dem Reglement hat das nichts zu tun - aber mit Herzlichkeit.)

Foto: Thomas Rottenberg

Ein Heerlager der Müden und Glücklichen. Die friedlichste Armee der Welt. Wir waren Teil davon - ohne dass es sich eine Sekunde ungut angefühlt hätte: Wir bewegten uns jetzt mit dem Tempo der Kontinentalplatten. Wir waren froh, dass es vorbei war. Auch wenn keiner von uns gegen irgendjemand anderen als sich selbst und die Angst vor den eigenen Grenzen angetreten war, war es doch auch schön zu sehen, wie frisch und fröhlich wir im Vergleich zu so vielen anderen Finishern waren.

Foto: Thomas Rottenberg

Dabei war das Rennen noch lange nicht vorbei: Eine Stunde nachdem wir durchs Ziel gelaufen waren, machten wir uns auf den Weg zurück zu unserem Hotel. Immer noch kamen uns Läufer entgegen. Knapp hinter der Nummer 777 fuhr dann der "Beserlwagen". In Berlin heißt er "Kehrwagen" - und besteht aus zwei Reisebussen voll mit Erschöpften. Der Beserlwagen ist das hintere Ende jedes Marathons. Wer hinter ihm ist, kommt nicht mehr in die Wertung.

Foto: Thomas Rottenberg

In Berlin schließt das Ziel etwa sechseinhalb Stunden nachdem der letzte Läufer über die Startlinie gegangen ist. "Wir machen das aber so, dass der Bus knapp vor der Ziellinie stehen bleibt. Dann können die Leute drin aussteigen - und kommen auch noch ins Ziel und bekommen ihre Medaille. Das hat sich jeder von ihnen verdient", sagte ein Streckenposten. Der Bus war schon vor ein paar Minuten vorbeigefahren - und immer noch tröpfelten einzelne Läufer daher. Uwe war der vorletzte. Er strahlte.

Foto: Thomas Rottenberg

Dietmar war dann der allerletzte. Es war 15.38 Uhr - und Dietmar hatte noch über eineinhalb Kilometer vor sich. Vor fast sieben Stunden war der Startschuss gefallen. "Go! Go! Go!", riefen die Streckenposten. "Du schaffst das!", kam aus den Gastgärten, von Fahrrädern und aus Autos. "Dietmar, du bist großartig! Du kommst ins Ziel! Wir sind stolz auf dich!", riefen die Polizisten am Straßenrand - und alle, alle, alle applaudierten.

Dietmar war auf Autopilot unterwegs. Aber er strahlte. Und kam an. Fernab jeder Wertung. Jenseits des Klassements. Vermutlich sogar ohne eine Medaille zu bekommen.

Aber er gab nicht auf: Dietmar ist der wahre Sieger des Berlin-Marathons.

Foto: Thomas Rottenberg

Offizieller Sieger des 40. Berlin-Marathons war der Kenianer Wilson Kipsang. Der 31-Jährige verbesserte die Weltbestmarke über 42,195 Kilometer auf 2:03:23 Stunden. Den bisherigen Weltrekord hatte Patrick Makau, ebenfalls aus Kenia, aufgestellt. Kipsang unterbot Makaus Zeit um 15 Sekunden.

Thomas Rottenberg brauchte 4:37:34. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 1.10.2013)

Link zur Route auf polarpersonaltrainer.com

40. Berlin-Marathon

Foto: scc events