Philosoph Robert Pfaller (Wien) betrachtet bevorzugt Dinge, für die es sich zu leben lohnt.

Foto: Cremer

Ist der aufrechte Gang des Menschen etwas Besonderes, ist er die rechte Haltung für den Gipfel der Schöpfung? Kurt Bayertz, Professor für praktische Philosophie an der Uni Münster, ist eher zufällig auf diese Frage gestoßen. Er hat sie gewendet, hat tradierte Argumente gegen sie studiert – Rückenschmerzen, Geburtsschmerzen, vielleicht nur eine Verirrung der Evolution – und ist schließlich zur Einsicht gelangt, dass eher die damit einhergehende Fähigkeit, sich selbst von außen zu betrachten, unsere Spezies zu etwas möglicherweise so Speziellem gemacht hat: "exzentrische Positionalität".

Darüber hat Bayertz im vergangenen Jahr eine "Geschichte des anthropologischen Denkens" verfasst, und dafür wird ihm in Lech der diesjährige Tractatus-Preis verliehen, für herausragende Essayistik, die Probleme allgemein verständlich näher bringt. In ihrer Rede hat Ursula Pia Jauch, Zürcher Philosophin und Jury-Mitglied, ebenfalls ihre Zweifel an Vorteilen und Exklusivität der Gangart: Vielleicht würde der krumme Rücken den Menschen doch besser charakterisieren; und im Übrigen pflegten Pinguine ja auch aufrecht zu gehen.

Der Tractatus-Preis ist selbst eine Art Blick von außen, auf das alljährliche Symposium in Lech, wo philosophische Themen behandelt werden, "letzte Dinge", wie es im Zauberberg heißt (einem am Rande verwandten, wenn auch viel morbideren Unterfangen in den Alpen). Dieses Jahr geht es, wie berichtet, um "Ich. Der Einzige in seinen Netzen", und Ziel ist es, das Thema dem Publikum in vielen Facetten zu vermitteln – wie eben gute Essays. (Der Tractatus wurde übrigens fünf Jahre lang von einem bis vor Kurzem anonymen Spender ermöglicht, den man sich dennoch ausrechnen konnte, denn "der Preis verleiht Flügel". Nun, da Red Bull nicht mehr Mäzen ist, hoffen die Gemeinde Lech und die Veranstalter um den Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann auf einen neuen Sponsor.)

Das Ich also. Es ist erstaunlich, in wie viele Splitter, Facetten, Brocken dieses doch scheinbar selbstverständliche Wort zerfällt, und von wie vielen Seiten Philosophen, Natur- und Sozialwissenschafter sich den Bestandteilen nähern, um sie wieder zu Einem oder zu Mehreren zu fügen oder auch nur festzustellen, dass Rekonstruktionsversuche vergeblich sind.

Was wird aus mir zum Beispiel, wenn ich mit meinen festgemauerten Überzeugungen, und betreffen sie auch nur die ästhetische Qualität einer Couch, mit jemand anderem zusammenziehe, der gegenteilige Ansichten über Design hat? Wenn Bauhaus auf Lederwülste stößt? Wenn also aus Ich ein Wir werden soll und Kompromisse angesagt sind – es sei denn, man will mit seinen Vorstellungen alleine bleiben? Empfindungen, das wusste schon David Hume, sind grundsätzlich weder wahr noch falsch, sie sind subjektive Präferenzen.

Das sieht auch Christian Demand (Kunsthistoriker, Nürnberg) so. Er schildert den langen Weg zu einer Neufindung der eigenen Person, auf dem viele, in seinem Fall von früh an antrainierte Vorlieben über Bord geworfen werden. Nicht nur ein privates Beziehungsproblem verhandelt er damit: Für die Wirkung von Geschmack (und seinen Diktaten) auf den öffentlichen Raum brauchen wir nur aus dem Fenster zu schauen; in Lech haben die vorgeschriebenen, angeblich der Tradition geschuldeten Dachneigen die wunderlichsten architektonischen Ergebnisse gezeitigt.

Das Ich kann ziemliche Umwege machen, bevor es zur Sprache kommt. Wer ich bin, ob ich überhaupt wer bin – Fragen sind das, zu deren Beantwortung eine Tour de force unternommen wird. Sie beginnt bei Schiller, geht vor zur Gegenwartsbelletristik, zurück zum Libretto der Zauberflöte, zu Nietzsche, Kafka, Handke, um schließlich, gelenkt von Christian Hart Nibbrig (neuere deutsche Literatur, Lausanne), beim Sprachspiel zu landen, in Augenhöhe: "I in eye. 'Ich' in der Pupille des Anderen." Am Ende mögen wir wirklich "nichts anderes als Literatur" sein.

Doch wo bleiben die Netze? Auf seine Art mag ja auch die Struktur, die Freud postuliert hat und die das Ich zwischen Es und Über-Ich stellt, auf ihre Art ein Netzwerk sein, in dem es zu dynamischem Austausch kommt. Mehrmals wird sie herangezogen, als Erklärung dafür, warum das Ich sich duckt, ihm nichts erlaubt wird. Aber das führt, schön zu sehen bei Robert Pfaller (Philosophie, Angewandte Wien), eher zu einer Betrachtung der Dinge, für die es sich "zu leben lohnt". Um die unbeabsichtigten Konsequenzen von Verboten und Geboten geht es ihm, um die Absurdität mancher politischer Korrektheit, um die heutige Neigung zu einem narzisstischen Ich.

Hier immerhin entsteht eine Brücke zum Thema: Der Narzissmus ist ja Begleiterscheinung des Rückzugs aus der Solidargemeinschaft. Das reale gesellschaftliche Netz ist löchrig geworden, dafür sollen nun die "sozialen" Netzwerke Ersatz schaffen. In ihnen vermeint der Einzelne sich zu realisieren und bleibt doch vereinzelt.

Aber er geht im Netz auf. Facebook & Co. sind die Bühnen, auf denen wir nomadenhaft unsere Rollen spielen. "Monolog-Theater unter vielen Anwesenden" nennt das Miriam Meckel (Kommunikationsmanagement, St. Gallen), eine Form von Autismus. Selber durchaus aktiv in den neuen Medien, sieht sie dennoch die Gefahr, dass die Bereitschaft zur permanenten Inszenierung des beruflichen und privaten Lebens so lange sich aufbläst ("Ich – jetzt noch besser!"), bis man implodiert. Philosophisch initiierte Fragen erfahren empirische Antworten aus der Geschäftswelt. Oder, wie Meckel es inszeniert: Walt Whitman, amerikanischer Dichter aus dem 19. Jahrhundert, stößt auf den Propheten des Endes der Privatsphäre, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Ein Remis, aber mit Sympathien bei Ersterem.

Noch einmal wird nachgefragt, was eigentlich passiert, wenn man von sich selbst spricht. Dafür gibt es, wenigstens für Phänomenologen wie Lambert Wiesing (Jena), keine Methode, sondern nur eine präzise Vorgangsweise der Wahrnehmung. "Bewusstseinsmathematik" hat dies der Begründer der Denkschule Edmund Husserl genannt. Die Zuhörer erfahren, wie dieser Zugang dabei hilft, über sich selbst in der dritten Person zu denken bzw. die Umwelt als Bild zu sehen, das einen selbst nicht enthält: Man mag darin eintauchen, aber man taucht nicht darin auf.

Das empfinden viele – so ist in der Pause zu hören – zwar als bereichernd. Aber wo bleibt nun das im Symposiumstitel versprochene Netz? Auch eine lehr- und bilderreiche Fahrt an der Grenze zwischen Philosophie und Neurowissenschaften kann nur eine teilweise Antwort geben. Thomas Metzinger (theoretische Philosophie und Neuroethik, Mainz) räumt als Reiseleiter zunächst mit überkommenen Vorstellungen auf: Mit Wittgensteins Diktum – "Was sich sagen lässt, lässt sich klar und deutlich sagen" – geht er gegen schwammige Begriffe wie "mein Ich", "mein Selbst" und auch Ich und Über-Ich ("logischer Müll!") vor und schlägt statt ihrer Selbst-Modelle vor, die in verschiedenen Graden neurobiologisch verankert sind: Wo Ich war, möge man jetzt über Interfaces nachdenken, also über Schaltstellen zwischen Bewusstsein und neuronalen Netzen.

Es wird klar: Das Thema "Netze" war so weit definiert, dass darunter die unterschiedlichsten Formen von Eingebundensein oder Ausgeschlossensein fallen: soziale und virtuelle, neuronale und eingebildete, überdeterminierte und fehlende. Ein weites Feld für Denken und Querdenken ist abgesteckt. Das aber ist Prinzip des Lecher Symposiums seit mittlerweile 17 Jahren.

Coda:

Fast alle Vortragenden sind akademisch verankert. Das hindert sie nicht, im Rahmen von Erörterungen der Ich-Strategien auch deren institutionelle Ausweitungen aufs Korn zu nehmen. Universitäre "Selbstplakatierungen" à la "Kompetenzzentrum" seien äußerst fragwürdig, befindet Roland Reuß (Literaturwissenschaft, Uni Heidelberg), weil nicht von außen zugeschrieben. Ähnlich ärgerlich sind sie wie die Bologna-inspirierten Versuche, die Hochschulen stromlinienförmiger zu organisieren – während sie in Wirklichkeit in wenig inspirierendem Mittelmaß versanden, als Uni-AGs so prekär wie die Ich-AGs.

Gewisse akademische Unsitten treten allerdings auch in Lech auf. Etwa ermüden manche Redner die Zuhörerschaft mit dem Vorlesen von für den Druck bestimmten Aufsätzen in unnütz kompliziertem Deutsch, oder sie schätzen die Längen ihrer Reden so falsch ein, dass sie sie nicht annähernd zu Ende bringen können.

Das sind Ausreißer. Die meisten wissen, wie man interessierte Laien engagieren, unterhalten und fordern kann, ohne sie zu überfordern. Einige liefern sogar bejubelte Performances ab, spannend und verständlich, Drahtseilakte – ohne Netz.

Die ständig steigenden Teilnehmerzahlen zeigen, dass die Idee des Symposiums auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die zum Konferenzzentrum umfunktionierte moderne Kirche ist heuer zum Bersten voll; fürs kommende Mal wird man sich etwas dazu überlegen müssen. Apropos: Wie alle Jahre kündigt Ludwig Muxel, Bürgermeister der gastgebenden Gemeinde Lech, beim Sonntagsbrunch den Titel des nächsten Philosophicums an: "Schuld und Sühne. Nach dem Ende der Verantwortung", von 17. bis 21. September 2014. Die Lektüre Dostojewskis, neuerdings Verbrechen und Strafe genannt, wird sich bis dahin ausgehen. (Michael Freund, DER STANDARD, 30. 9. 2013)