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Anatol Richter (rechts) mit dem Kollegen Benny Wendt vor dem Wiener Rathaus im Jahr 2001.

Foto: apa/ziegler

Wien - Im weltweiten Netz bleibt ab und zu auch wirklich Seltsames hängen. Zum Beispiel der Wikipedia-Eintrag zu Anatol Richter. Er umfasst, neben einer Erfolgsliste, exakt vier Sätze: "Anatol Richter ist ein österreichischer Florettfechter. In seiner Jugend genoss er eine sportliche Ausbildung auf breiter Basis. Er betrieb Judo und Segeln und erzielte Erfolge im Basketball und Skisport. Nach seiner AHS-Matura ist er derzeit Student der Rechtswissenschaften." Das alles ist dermaßen unaktuell - ts, ts, ts, Wikipedia!

Richter (43) war Florettfechter und war Student der Rechtswissenschaften. Der Mann ist 43 Jahre alt, er hat zwar eine Zeitlang studiert und noch länger gefochten, aber so lange dann auch wieder nicht. Alles zu seiner Zeit. Mittlerweile gibt es ganz anderes zu berichten, der Standard springt gerne für Wikipedia ein. Als fertiger Jurist hatte Richter 2006 in der Wiener Finanzverwaltung begonnen, vor etwas mehr als einem Jahr übernahm er von Sandra Hofmann, die Geschäftsführerin der Stadthalle wurde, die Leitung des Sportamts der Bundeshauptstadt.

Ski- und Basketballmeister

An der laut Wikipedia "sportlichen Ausbildung auf breiter Basis" immerhin ist nicht zu rütteln. Anatol, der die Albertus-Magnus-Schule in Währing besuchte, brachte es im Skifahren und Basketball tatsächlich zu Wiener Schülermeistertiteln. Dass er sich dann dennoch voll und ganz aufs Fechten verlegte, hatte zwei Gründe. Erstens war da der Basketballcoach, der die Buben dreimal pro Woche trainieren lassen wollte. Und zweitens der Fechttrainer, der Anatols Vater war. "Ich bin", sagt Anatol, "zwischen den Fechtbahnen aufgewachsen."

Sein Vater, dessen Name klingt wie der des Sohnes, sich aber anders schreibt, nämlich Anatole, sein Vater und seine Mutter Ilse hatten ebenfalls gefochten. Anatole war mehrmaliger WM-Teilnehmer, die Olympischen Spiele 1980 (Moskau) verpasste er wegen des Olympiaboykotts, dem sich zwar nicht ganz Österreich, aber sehr wohl der Fechtverband angeschlossen hatte.

Eine Jugend bei WAT Wieden

Anatols Eltern hatten sich im Verein WAT Wieden kennengelernt, der sein Training im Turnsaal der Volksschule Graf-Starhemberggasse abhielt. "Dort sind eine Zeitlang die Fetzen geflogen", erinnert sich Anatol. Schließlich war der Vater sein erster Trainer. "Als Vater war er total locker und gar nicht autoritär", aber als Trainer war er anders. Der Junior ärgerte sich nicht, als er mit 14 Jahren einen anderen Betreuer bekam, Adam Kiss-Orski. Der Pole führte Anatol nach oben. Richter gewann 1989 als erster Österreicher ein großes Junioren-Weltcup-Turnier in Deutschland. "Damit hatte ich das Selbstverständnis implantiert, jedes Gefecht gewinnen zu können. Da war nicht nur das Gefühl, ich will in die Weltspitze, sondern auch das Gefühl, da kann ich wirklich hin."

Das Gefühl sollte sich bald bestätigen. 1991, mit 21, erreichte Anatol Richter das Finale des Weltcup-Turniers im Wiener Rathaus. In der Vorrunde fügte er Ingo Weißenborn die erste Niederlage nach dessen WM-Triumph zu. Mag sein, der Deutsche hatte Richter unterschätzt. Im Finale, das Weißenborn über die Hoffnungsrunde erreichte, traf man sich wieder, Weißenborn unterschätzte Richter kein zweites Mal, gewann.

Der feine Weltcup im Rathaus ist Geschichte. In der Organisation war fast alles von Anatole Richter abhängig gewesen. Der legendäre, seit kurzem pensionierte Währinger Standesbeamte war nicht nur Trainer von WAT Wieden, sondern auch Präsident des Wiener Verbands gewesen. "Viel war Privatinitiative", sagt Richter junior, "so hat meine Mama das russische Team vom Flughafen abgeholt." Irgendwann habe der Vater dann "den Hut draufgehaut".

Hausgemachte Probleme

Österreichs Fechter hatten es selten leicht, und sie machten es sich selbst oft schwer. Man stritt mit- und untereinander. Besonders arg ging's im Florettteam zu, obwohl oder gerade weil es erfolgreich war. Richter, 1992 Olympia-Elfter im Einzel, bildete mit Benny Wendt und Michael Ludwig den Stamm der Mannschaft, die 1993 auf den sechsten und 1995 auf den vierten WM-Platz kam. Danach wurden die Wickel zwischen Wien (Familie Richter) und Mödling (alle anderen) immer ärger und schließlich so arg, dass Richter, obwohl qualifiziert, auf Olympia '96 (Atlanta) verzichtete. "Wir haben uns auseinanderdividieren lassen", sagt er heute. "Ich war der Außenseiter." Nun hat er mit den Kollegen von damals gar keine Probleme. "Ab und zu trifft man sich oder telefoniert. Wir haben ja viel gemeinsam erlebt."

Richter hat seinerzeit zu studieren begonnen, war jahrelang als Fahrradbote unterwegs, "oft vierzig, fünfzig Stunden die Woche", hat weitergefochten. Schlusspunkt war 2005 der siebente WM-Platz mit dem Team. "Ich war zwanzig Jahre lang Spitzensportler." Auch deshalb wollte er Abstand gewinnen. Vater ist er geworden, und in einer Patchworkfamilie lebt er, seine Lebensgefährtin brachte zwei Töchter und einen Sohn mit, und er hat eine dreijährige Tochter aus einer früheren Beziehung.

Zurück zum Sport

"Klassisch wäre eine Funktionärslaufbahn gewesen", sagt Richter, aber den klassischen Weg wollte er nicht gehen. Umso mehr taugt es ihm, wieder im Sport gelandet zu sein. "Weil ich mir diesen Schritt echt erarbeitet habe." Das Sportamt, dem knapp 150 Mitarbeiter angehören, kümmert sich um die Ausrichtung von Sportevents, die Vergabe von Fördergeldern, vor allem um die Sportinfrastruktur in Wien. Und natürlich würde es diesbezüglich, gerade in diesem Büro in diesem so alten Stadion, mit Herrn Richter jetzt noch viel zu bereden geben. Aber alles zu seiner Zeit. (Fritz Neumann - DER STANDARD, 30.9. 2013)