Kein Gaudi-Theater trotz "Wiesn"-Zeit: Danton (Pierre Bokma, Mi.) ermittelt in München die Schwankungsbreite der Vernunft.

Foto: Münchner Kammerspiele / Röder

 Das "Theater des Jahres 2013 " überzeugt mit einer uneitlen Erörterung des Für und Wider von Revolutionen.

Das Licht der Aufklärung ist, kaum entzündet, schon wieder trübe. In den Münchner Kammerspielen wird es zunächst von zwei Glühbirnen genährt. Paris ist 1794, zur Hochzeit des Terrors, ein Ort der Selbstbespiegelung. Georg Büchners Dantons Tod bildet den unbehaglichsten Beitrag zur französischen Revolutionsgeschichte. Die Furie der Gewalt hat ausgerast, dennoch rollen weiter Köpfe in den Korb unter der Guillotine. Die Hoffnungen auf rasche Befriedung der Republik sind zerstört. Die Jakobiner unter Robespierre opfern der Chimäre der Tugend die tüchtigsten Kräfte.

Der Advokat aus Arras (Wolfgang Pregler), ein kleiner, humorloser Mann mit Bauchschärpe, entzündet eigenhändig die Kerzen. In Johan Simons' Münchner Büchner-Inszenierung wird über die Revolution tatsächlich zu Gericht gesessen. Die Figuren, unter ihnen die revolutionären, teils in Hosenrollen geschlüpften Frauen, gehören einem Debattierclub an. Simons' kluges Theater ist musterhaft sparsam. Es misst gerade zwei Tische in der Ausdehnung (Bühne: Eva Veronica Born). Flankiert wird es von Videokommentaren: blassen Schemen, ziehenden Baumkronen, gelegentlich rücken die Revolutionäre selbst ins Bild.

Ein Bürger ("citoyen") trägt gar noch die Samtjacke des Höflings aus dem "ancien régime". Herman (Hans Kremer) murmelt hinein in den gesegneten Schlaf der Revolutionäre. Ein 15 Musiker zählendes Kammerensemble gibt eine elegische Serenade zum Besten. Ein echter Jagdhund streicht um die Beine der Tische und Schauspieler. Am wohlsten fühlt sich das freundlich wedelnde Tier ausgerechnet im Dunstkreis des blutigen Demagogen St. Just (Annette Paulmann).

Rollenbuch der Revolution

Herman, der ein schwarzes Rollenbuch in Händen hält, spricht aus der Zukunft: "Jetzt, da wir im Licht leben", sei die Teilung der Menschen in Täter und Opfer endgültig aufgehoben. Man meint, den ganz gewiss nicht von Büchner (1813-1837) stammenden Text zu kennen. Er dürfte Michel Houellebecq, dem Autor der Elementarteilchen, gehören.

Simons arbeitet mit dem berühmtesten Historiendrama des Vormärz wie ein Bildhauer im Atelier. Er knetet Büchners Szenen neu. Den Skulpturen pfropft er Fundstücke auf: Zeugnisse des Feminismus, Gelehrtenprosa aus der Verhaltensforschung. "Tiergesellschaften funktionieren durch das Dominanzverhalten", doziert da der Revolutionär Lacroix (Stephan Bissmeier). Im Frankreich der 1790er-Jahre ist das grundlegend anders. Das mächtigste Tier von allen heißt George Danton (Pierre Bokma).

Dieser verdiente Rabauke der Revolution könnte dem nicht zu stoppenden Blutdurst Robespierres ein Ende bereiten, wenn er nur wollte. Das ist zugleich sein Problem. Danton will nicht. Bokma streicht sich oft und gerne durchs Künstlerhaar. Er zieht reflexhaft am Bund der Hose, damit sie sitzt. Danton, der Liebling der Massen, ist das eitelste Wesen auf der ganzen Welt. Ein skrupelloser Terrorist hat im Herbst seines Lebens das Gewissen entdeckt. Er will das Volk zu Atem kommen und in Ruhe lassen. Er ist in den Augen der Reinheitsprediger ein gefährliches Fossil. Ein Pfau, der kein Rad schlägt, ist buchstäblich zu nichts nütze.

Das Licht funzelt verlässlich trübe während dieser atemberaubenden dreieinhalb Stunden. Simons, der die Kammerspiele noch bis 2015 leiten wird, gibt Büchners Katastrophenbericht zur Diskussion frei. Er hat die Jakobinermützen von der Bühne verbannt, die Volksmassen, das Elend der Französelei. Unlängst hat man die Münchner Kammerspiele in einem Branchenblatt zum "Theater des Jahres" gekürt. Man zweifelt keine Sekunde an der Rechtmäßigkeit dieser Einschätzung.

Während in München ein Heer bezechter Lederhosenträger durch die Gassen taumelt, widmet man den wichtigen Fragen in der Maximilianstraße einen Bühnenessay. "Wiesn"-Zeit ist Nachdenkzeit. Was ist es, das in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Was ist eine Tugend des Schreckens wert? Die Antworten sind erwartungsgemäß vage. Robespierre (Pregler) steckt wie ein Priester im Wams der Vernunft. Sein Zwiegespräch mit dem verhassten Rivalen mündet in ein Glaubensbekenntnis. Pregler wälzt sich auf dem Rokoko-Fauteuil. Er predigt "rücksichtlose Härte" gegen alle Feinde. Am Schluss - die Fraktion der "Dantonisten" ist säuerlich in den Tod gegangen - gehört ihm das letzte Wort. (Das vorletzte hatte übrigens Monsieur Guillotine, der Ingenieur der Mordmaschine).

Pregler spricht von einer neuen Spezies. Er zieht sich bis auf die nackte Haut aus. Es ist noch ein weiter Weg, bis aus dem Wutbürger unserer Tage ein echter Revolutionär wird. Tosender Beifall.   (Ronald Pohl aus München, DER STANDARD, 28.9.2013)