Die Aktienkurse erklimmen neue Höchststände, die Arbeitslosenquoten auch. Denn in einer finanzkapitalistischen "Spielanordnung" stimulieren Niedrigzinsen nicht die Realwirtschaft, sondern die Spekulation. Aber: Beenden die Zentralbanken die Geldschwemme, käme es zu einem Sturz von Aktien- und Anleihekursen sowie der Rohstoff- und Immobilienpreise und damit zu einem neuerlichen Einbruch der Realwirtschaft.

Dann braucht es erst recht eine Geldschwemme sowie Banken- und Konjunkturpakete. Dies ist aber wegen der hohen Staatsverschuldung diesmal ausgeschlossen. Es verbleibt die Zypern-Lösung: allgemeine Finanzschmelze - nur trifft sie diesmal nicht überwiegend russische Oligarchen, sondern alle Besitzer von Finanzvermögen.

Verheerende Krisen

Es gibt eben nichts Richtiges im Falschen. Das "Falsche" ist die finanzkapitalistische Spielanordnung selbst, sie müsste überwunden werden. Das gelingt nur nach verheerenden Krisen wie der Depression der 1930er-Jahre, und so weit sind wir (noch) nicht.

Warum können die Eliten nicht antizipativ lernen? Weil die herrschende Spielanordnung ein Gesamtsystem darstellt, dessen Komponenten sich gegenseitig stützen. Basis ist eine Wirtschaftstheorie, die von einem "wahren" Modell ausgeht: Der Mensch ist ein rein rational agierendes Individuum, Emotionen und Soziales gibt es nicht, der Egoismus der Einzelnen ermöglicht durch die "unsichtbare Hand" des Marktes das allgemeine Beste (dieser Unsinn wird Adam Smith unterstellt - für ihn gehört aber zum "self-interest" auch die Berücksichtigung der Lage der anderen, die Neoliberalen verwechseln "self-interest" mit "selfishness" ).

Navigation für die Politik

Aus diesen "Wahrheiten" wurde die Navigationskarte für die Politik abgeleitet: Liberalisierung der Finanzmärkte, Regelbindung der Politik, Abbau des Sozialstaats, Entmachtung der Gewerkschaften, Deregulierung der Arbeitsmärkte.

Mit "neoliberaler Brille" blieb die systemische Hauptursache der Finanzkrise verborgen: Drei Bullenmärkte hatten die Aktien-, Immobilien- und Rohstoffvermögen drastisch aufgewertet und so ein Absturzpotenzial aufgebaut, das sich 2008 in drei "Bärenmärkten" entlud. Die Krise war also das Ergebnis von "business as usual".

Dies wahrzunehmen hätte impliziert: Die "freiesten" Märkte leiden an manisch-depressivem Irresein. Dann hätte man aber die neoliberale Theorie als Ganzes verwerfen müssen. Also lieber Verleugnung und Verdrängung samt einem neuen Spiel: die Spekulation gegen Staaten. Dadurch stiegen die Zinsen für die "Problemländer" in unbezahlbare Höhen, der Rettungsschirm erzwang strenges Sparen, Südeuropa schlitterte in eine Depression. Und nun sollen durch einen "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit" Kündigungsschutz und Kollektivverträge abgeschafft werden. Dann sind die Gewerkschaften erledigt.

Niemand hat sich um diese Erfolge so verdient gemacht wie Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek. Schon 1947 gründete er die "Mont-Pelerin-Society", ein Netzwerk gleichgesinnter Ökonomen, mit dem Ziel, die abseh- bare Ausweitung des Sozialstaats, der Sozialpartnerschaft und des Staatseinflusses wieder rückgängig zu machen.

Damit wollten Hayek und die "Chicago gang" jene Konzepte bekämpfen, die ja erst vor ihrer "Blütezeit" standen. Dazu brauchte es konsequente Planung, einen langen Atem und neue Schläuche für den alten Wein des "laissez faire": "Thinktanks" wurden gegründet, ihre Finanzierung organisiert, Journalisten - "second-hand dealer" in Hayeks Jargon - angeworben und Modelle gegen die Wirtschaftsordnung der 1950er- und 1960er-Jahre entwickelt: gegen die Regulierung der Finanzmärkte, gegen Vollbeschäftigungspolitik, gegen den Sozialstaat etc. Die "wahren" Modelle halt.

Diese Konzepte zogen die neoliberalen "masterminds" aus dem Talon, als Ende der 1960er-Jahre ihre Zeit gekommen war: Offensive Gewerkschaften, der Aufstieg der Sozialdemokratie und die Linkswende der Intellektuellen hatten die Vermögenden provoziert, gleichzeitig wurden Schwächen der (pseudo-)keynesianischen Wirtschaftsordnung offenkundig.

Wie bewundernswert die Leistung von Hayek und Co war, kann man am Versagen der linken Ökonomen in den nachfolgenden Jahrzehnten ermessen. Sie haben im Abseits keine über Keynes hinausgehenden Alternativen zur neoliberal-finanzkapitalistischen Ordnung entwickelt. Als diese in eine schwere Krise führte, konnten die vielen "aufgelegten Elfmeter" nicht eingeschossen werden. Im Gegenteil: Die vom Neoliberalismus verursachte Krise wurde zum Turbo für die finale Durchsetzung seiner Forderungen.

"I prefer a liberal dictator"

Hayek war weitsichtig und erkannte: Parlamentarische Demokratie und freie Wirtschaft können in einen unlösbaren Konflikt geraten, und dann braucht es manchmal eine Diktatur ("a dictatorship may be a necessary system for a transitional period"). Mit seinen wiederholten Besuchen in Chile nach dem Putsch 1973 samt einer Audienz bei Pinochet wollte er ein Zeichen setzen. Im Interview mit El Mercurio bekannte Hayek 1981: "Personally, I prefer a liberal dictator to democratic government lacking in liberalism." Überdies sei die einzige echte Diktatur in Lateinamerika jene von Allende gewesen. Dass Hayek ein Treffen seiner Mont-Pelerin-Society nach Viña del Mar einberief, war kein Zufall. Dort hatten die Generäle den Putsch geplant.

Zur Bekämpfung der "abuses of democracy" schlug Hayek in den 1970er-Jahren die Schaffung einer Jury vor, eines Rats der Weisen. Dieser agiert über dem Parlament. Mehrheitsentscheidungen, welche die Freiheit der Individuen einschränken, wären dann nicht mehr möglich wie etwa eine Pflichtmitgliedschaft in der Sozialversicherung. Die Troika von Europäischer Zentralbank, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds kann als Prototyp von Hayeks Jury angesehen werden.

Unter dem "Sachzwang" freier (Finanz-)Märkte wird schon seit Jahren gegen den Willen der meisten Menschen Politik gemacht. Oder glaubt jemand, dass der Abbau des Sozialstaats, die Zunahme der Ungleichheit, die Beschneidung von Arbeitnehmerrechten etc. dem Willen der Mehrheit entsprechen?

Allerdings: So erfolgreich die neoliberale Theorie Sozialstaat und Demokratie geschwächt hat, ein Wermutstropfen bleibt. Die kommende Finanzschmelze wird die Vermögen jener dezimieren, in deren Interesse die Theorie restauriert worden war. Shit happens. (Stephan Schulmeister, DER STANDARD, 26.9.2013)