Dass Kanzler Werner Faymann (SPÖ) ein weitaus besserer Debattierer ist als Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP), hat man beim TV-Duell am Dienstagabend beim Thema Mindestlohn gesehen. Faymann überraschte Spindelegger mit seiner Forderung nach einer 1.500-Euro-Untergrenze für alle Vollzeitbeschäftigten. Spindelegger konterte mit der Warnung, dass dann Jobs verlorengehen würden - worauf Faymann erklärte, es dürfe keine Jobs geben, von denen man nicht leben könne. Und 1.500 Euro im Monat, was auf etwa 1.000 Euro netto herauskommt, seien heute ein Minimum.

Was Spindelegger hätte antworten können: Österreich hat de facto Mindestlöhne. Durch die flächendeckenden Kollektivverträge (KV) erhalten rund 98 Prozent der Arbeitnehmer ein von der Gewerkschaft ausgehandeltes Mindesteinkommen.

Andere EU-Länder mit Mindestlöhnen haben ein solches System nicht. Selbst in Deutschland, wo SPD und Grüne jetzt einen Mindestlohn von 8,50 Euro fordern, ist der Wirkungsbereich von Kollektivverträgen viel kleiner als in Österreich.

Tarifautonomie gefährdet

Jahrelang hat sich deshalb auch der ÖGB gegen gesetzlich festgelegte Mindestlöhne gesperrt. Er sah dadurch seine tarifliche Autonomie eingeschränkt und fürchtete außerdem, dass sich dann viele Branchen an diesem Mindestlohn orientieren würden, was letztlich zu einem Rückgang der Durchschnittsgehälter führen könnte. Nicht das Parlament, so das Mantra, sondern die Sozialpartner sollen in Österreich die Löhne festsetzen.

In letzter Zeit ist der ÖGB etwas umgeschwenkt und unterstützt zunehmend die Forderungen seines Frauenflügels nach einem Mindestlohn, der auch aus Gründen der Einfachheit mit 1.500 Euro angesetzt wird (vor acht Jahren waren es noch 1.000 Euro). Aber überzeugt sind etwa die Metallgewerkschafter, die für ihre Mitglieder viel höhere Abschlüsse herausverhandeln können, davon nicht.

Friseurinnen verdienen am wenigsten

Wenn man sich die unzähligen Kollektivverträge in Österreich anschaut, sieht man, dass nur in Teilen des Dienstleistungssektors weniger als 1.500 Euro gezahlt wird. Beim Handel ist die Untergrenze für ständige Vollzeitbeschäftigte derzeit 1.391 Euro. Am untersten Rand sind Friseurinnen mit unter 1.200 Euro, wobei die aber ihr Einkommen mit Trinkgeld aufbessern.

Ein gesetzlicher Mindestlohn würde daher vor allem den Handel belasten und könnte dort sehr wohl zu Arbeitsplatzverlusten führen. Dass gerade Frauen im Handel schlecht bezahlt werden, ist bekannt. Andererseits sorgt das Sozialsystem mit seinen vielfältigen Leistungen meist dafür, dass selbst Alleinerzieherinnen mit einer Vollzeitstelle nicht unter die Armutsgrenze fallen.

Problematisch wird es für Teilzeitkräfte, bloß würden die ohnehin nicht in den Genuss des vollen Mindestlohns kommen.

Anders als in Deutschland, wo der Niedriglohnsektor gewaltige Ausmaße angenommen hat, hätte ein gesetzlicher Mindestlohn von 1.500 Euro in Österreich, der einen Stundenlohn von 8,66 Euro bedeutet, keine gravierenden Auswirkungen auf Einkommen oder Lohnkosten. Einzelne würden davon profitieren, andere dafür verlieren, wenn die ganz einfachen Jobs im Handel oder bei Callcentern verschwinden würden.

Kein Vorteil für neue Selbstständige

Und die neuen Selbstständigen, die oft am schlechtesten verdienen, würden gar nicht unter die Regelung fallen. Im Gegenteil: Die Gefahr besteht, dass einige Branchen Wege suchen würden, durch Pseudo-Selbstständigkeit dem Mindestlohn zu entkommen.

Vor allem wäre der Mindestlohn ein radikaler Systemwechsel. Nicht mehr in den sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen, sondern im Nationalrat würden die Rahmenbedingungen für die Einkommen bestimmt werden. Das ist zwar demokratisch, aber weniger flexibel und immer in Gefahr, Opfer politischer Demagogie zu werden.

Die Erfahrung mit Staaten mit Mindestlöhnen ist gemischt: Oft werden diese jahrelang nicht an die Inflation angepasst und führen so zu einem allgemeinen Senken des Lohnniveaus. Eine plötzliche kräftige Erhöhung belastet dann wieder gewisse, ohnehin wenig profitable Branchen.

Derzeit fährt Österreich mit seinem System der branchenspezifischen Kollektivverträge noch besser. Das wissen auch die Experten in der SPÖ, dem ÖGB und der Arbeiterkammer. Faymanns Forderung scheint daher eher für den Wahlkampf als für die nächste Legislaturperiode gedacht zu sein.

Aber sollte es sich zeigen, dass immer mehr Arbeitnehmer nicht mehr unter einen KV fallen oder gewisse Branchen tatsächlich keine "Living Wages" mehr bieten, dann wird auch bei uns die Zeit des Mindestlohns kommen. Es wäre allerdings kein gutes Zeichen für den Sozialstaat. (Eric Frey, derStandard.at, 25.9.2013)