Wie die Brüder Bouroullec zur Höchstform auflaufen.

Foto: Vitra/Bettina Matthiesen

Ronan (l.) und Erwan Bouroullec bei der Arbeit: Konflikte sind dabei vorprogrammiert.

Foto: Morgane Le Gall, Studio Bouroullec

Hier zu sehen ist ein Ausschnitt der Ausstellung "A & W Designer of the year" im Kölnischen Kunstverein 2013.

Foto: Morgane Le Gall, Studio Bouroullec

Raumtrenner-Elemente "Clouds", entworfen für das dänische Textilunternehmen Kvadrat.

Foto: Paul Talon, Studio Bouroullec

Für die Wandablagen "Corniches" ließen sich die Bouroullecs von Felsvorsprüngen inspirieren.

Foto: Paul Talon, Studio Bouroullec

Die Raum-Module "Cloud" entstanden in Zusammenarbeit mit Cappellini.

Foto: Paul Talon, Studio Bouroullec

Der aus unzähligen Klein-Elementen bestehende Raumtrenner "Algues" für Vitra.

Foto: Paul Talon, Studio Bouroullec

Ronan Bouroullec vor einer Wand voller Entwürfe und Bilder des Studios in der Bouroullec-Ausstellung im Architektur-Zentrum Bordeaux.

Foto: Bouroullec

Ein verregneter Mittag in der gleichermaßen rustikalen wie schicken Lobby des Alpenhotel Speckbacher Hof im Tiroler Ort Gnadenwald: Auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Ort, den französischen Designer Ronan Bouroullec zu treffen, der gemeinsam mit seinem Bruder Erwan zu einer Handvoll internationaler Topdesigner gehört. Warum man hier mit ihm zusammensitzt und nicht bei der Mailänder Möbelmesse oder in einem Pariser Café? Gemeinsam mit Swarovski präsentierte er am Tag zuvor einer Handvoll Journalisten den Entwurf "Gabriel", einen zwölf Meter hohen Luster, der ab Mitte November offiziell zu sehen sein wird, und zwar in der Eingangshalle des Schlosses Versailles.

STANDARD: Sie und Ihr Bruder Erwan geben nie gemeinsam ein Interview. Warum?

Bouroullec: Weil wir in vielen Dingen verschiedener Meinung sind. Erwan hat einen ganz anderen Charakter und ist im Vergleich zu mir ziemlich abstrakt im Denken. Er redet und redet und redet ... es ist wie eine Collage, wenn er loslegt. Außerdem suchen wir nicht nach gemeinsamen Antworten.

STANDARD: Ihre Zusammenarbeit scheint nicht gerade einfach zu sein.

Bouroullec: Ist sie auch nicht. Aber ich sehe das als Glück. Sieht man sich zu zweit einem Problem gegenüber, ist es leichter, eine Lösung zu finden.

STANDARD: Leichter? Das klingt nach Streit.

Bouroullec: Ja, wir streiten viel, fast immer, aber unsere Partnerschaft beruht auf einer ganz bestimmten Spannung. Wir suchen beide immer nach dem Besten, und das läuft in der Regel auf einen guten Kompromiss hinaus. Klar gestaltet sich das sehr langwierig und wird oft sehr chaotisch. Es ist ein Prozess.

STANDARD: Könnten Sie sich auch vorstellen, allein zu arbeiten?

Bouroullec: Das hab ich getan, die ersten fünf Jahre. Es war auch okay. Erwan begann Anfang der 1990er-Jahre als mein Assistent. Wir sind zusammen einfach besser.

STANDARD: Was ist, wenn Erwan keine Lust hat, zur Arbeit zu kommen?

Bouroullec: Wir sind sehr frei, und unser Studio ist klein. Wir sperren um zehn auf, um 19 Uhr zu, arbeiten nie am Wochenende. Die Balance passt ganz gut. Wir arbeiten sehr konzentriert, haben ein gutes Team, das aus sieben Leuten besteht. Ich schau mir auch keine beruflichen Mails an. Wir verfügen über einen wirklich guten Filter, der uns abschirmt.

STANDARD: Sie leben zusammen mit Inga Sempé, die selbst eine international gefragte Designerin und die Tochter von Jean Jaques Sempé ist, der unter anderem den "Kleinen Nick" zeichnete. Also Design rund um die Uhr?

Bouroullec: Nein, wir reden kaum über die Arbeit. Es kommt schon vor, aber wirklich selten.

STANDARD: Wie ist das mit Ihrer achtjährigen Tochter? Bastelt sie auch schon an Objekten?

Bouroullec: Ich hoffe, unsere Tochter wird eines Tages etwas ganz anderes tun als ihre Mutter, ihr Großvater und ihr Vater. Vielleicht sperrt sie ein Restaurant auf oder eine Bäckerei.

STANDARD: Sie wollen also zum Mittagessen zu Ihrer Tochter gehen?

Bouroullec: Genau. Die Sache ist, dass Sie sehr gut zeichnet. Aber glauben Sie mir, wir pushen sie diesbezüglich überhaupt nicht.

STANDARD: Kritisiert sie Ihre Entwürfe?

Bouroullec: Oh ja, und wie. Sie ist extrem hart in ihrem Urteil und sagt sofort, wenn ihr etwas nicht gefällt.

STANDARD: Gibt es etwas, von dem Sie sagen, Sie hätten es lieber nicht entworfen?

Bouroullec: Da gibt es vieles, in der Tat. Sie möchten sicher wissen, welches Objekt. Stimmt's?

STANDARD: Genau.

Bouroullec: Sag ich aber nicht. Im Ernst, es geht nicht darum, sich für einen Entwurf zu schämen. Es ist einfach so, dass man aus einer gewissen Distanz Dinge sieht, die man vielleicht hätte besser machen können. Man verändert seine Position in 15 Jahren. Wir begannen sehr jung und waren sehr naiv, hatten keinen Background, keine Erfahrung. Wir waren damals noch, wie soll ich sagen, Rohmaterial.

STANDARD: Ein ungeschliffener Kristall?

Bouroullec: Könnte man auch sagen. Wir mussten uns ein System aufbauen. Das ist durchaus mit einem Handwerk zu vergleichen. Es geht bei unserer Arbeit nicht nur um ein Objekt, es geht auch um Kommunikation, die Art, wie man etwas fotografiert etc. Wir machen all das selbst.

STANDARD: Wir sitzen hier mitten in Tirol, umgeben von einer Menge hoher Berge. Sie stammen aus der Bretagne. Wie fühlen Sie sich hier?

Bouroullec: Ich bin sehr beeindruckt, wie hier gearbeitet wird, von der Qualität und der Konzentration. Das funktioniert hier überall besser als in Frankreich. Und das sag ich nicht, weil ich gerade mit Swarovski zusammenarbeite.

STANDARD: Und die Berge?

Bouroullec: Die sind schon sehr schön, aber wenn ich die Wahl habe, bevorzuge ich das Meer.

STANDARD: Sie haben Ihre kleinen Wandablagen "Corniches", also "Felsvorsprünge", genannt, Ihre Raumtrenner heißen unter anderem "Algues". Wie viel Vorbild ist Ihnen die Natur?

Bouroullec: Wir sind auf dem Land aufgewachsen, klar hat das Einfluss, aber ich bin auch von Google und vielem anderen beeinflusst.

STANDARD: Wie kommen Ihre Objekte zu ihren Namen?

Bouroullec: Das ist ein Teil des Jobs, der uns nicht besonders viel Spaß macht. Wir arbeiten in einer Art Wolke und wissen meist nicht, was am Ende herauskommt. Es ist also auch schwierig, das zu benamsen.

STANDARD: Sie gestalten seit 15 Jahren eine Unmenge von Dingen. Was ist die größte Herausforderung in Ihrem Job?

Bouroullec: Die lautet, etwas gut zu machen, und das ist verdammt kompliziert. Es ist wie bei einem Song. Es geschieht ohne Protokoll. Gutes Design muss sich wie ein Song ins Leben integrieren. Vielleicht hinkt der Vergleich ein bisschen, aber ich denke daran, wie es jemand schafft, einen Song zu schreiben, der einen zum Weinen bringt. Und es geht darum, ein Objekt zu entwerfen, das nicht laut schreit, "Hey, ich bin ein Designobjekt"? Man kann es vielleicht auch mit Personen vergleichen, mit Charakteren, mit Intelligenz. Wie ist es, wenn jemand Bestimmter einen Raum betritt? So in der Art.

STANDARD: Und wann wissen Sie, dass etwas gut ist?

Bouroullec: Das ist kompliziert. Es geht um Vibes, um Situationen, es ist die Balance von vielen Dingen, es ist auch die Chemie und Sensibilität. Das ist viel schwieriger als die Ergonomie oder die Preispolitik. Warum ist der Thonet-Sessel nach 150 Jahren immer noch berühmt? Nicht wegen seines Komforts. Dieser ist okay, aber auch nicht mehr. Es geht um Intuition, um Charme, und Charme ist schwer zu definieren, deshalb bin ich mir auch nie ganz sicher, ob etwas wirklich gut ist.

STANDARD: Sie sagten einmal, Sie wollen gegen die Hässlichkeit in der Welt kämpfen. Was ist Hässlichkeit? Sehen Sie hier in diesem Raum etwas Hässliches? (Die Lobby ist in nobel-rustikalem Stil mit viel Holz und nadelgrünen Tischdeckchen gehalten, Anm.).

Bouroullec: Nun, zum Beispiel dieses "Reserviert"-Schildchen hätte man bestimmt besser gestalten können.

STANDARD: Etwas Schönes?

Bouroullec: Es geht bei dieser Frage viel mehr um Atmosphäre. Hier gibt es eine Menge hässliche Dinge, aber die Atmosphäre ist irgendwie okay und stimmig. Der Sessel zum Beispiel ist nicht schön, aber der Komfort ist in Ordnung. Die Balance im Raum stimmt.

STANDARD: Aber Sie wissen nicht, in welcher Umgebung, in welcher Atmosphäre Ihre Möbel landen werden, nachdem diese ein Geschäft verlassen.

Bouroullec: Ja, das stimmt. Ich möchte es gern damit vergleichen: Stellen Sie sich vor, jemand kommt zum Abendessen in eine Gesellschaft. Jeder hat Einfluss auf die ganze Atmosphäre. Und wenn die gut ist, dann passt's. Klar kommen unsere Objekte auch in unguten Umgebungen unter. Aber das ist ein anderes Problem. Ich denke, Design wird zu wenig als Disziplin und viel zu sehr als Adjektiv verstanden, darum kommt es auch zu so unsinnigen Begriffen wie "Design-Hotel", "Design-Sofa" etc.

STANDARD: Eine Frage, die kommen muss: Warum werden immer noch Sessel und Tische entworfen. Es gibt doch schon mehr als genug gute, oder?

Bouroullec: Warum wird noch immer Kunst gemacht? Warum werden noch Bücher geschrieben? Es gibt genügend gute Literatur, die man niemals zur Gänze lesen kann. Die Schriftsteller schreiben dennoch weiter. Ich denke, das ist Teil unserer Natur.

STANDARD: Sie heimsten in den vergangenen Jahren eine Unzahl an Titeln und Auszeichnungen wie ein. Was bedeuten Ihnen diese Titel?

Bouroullec: Nichts. Ich meine, ich freue mich darüber, aber es macht uns nicht stolz.

STANDARD: Sie haben gerade gemeinsam mit Swarovski einen riesigen Luster für das Schloss Versailles fertiggestellt, der nun bereit für den Transport ist. Erzählen Sie uns etwas darüber.

Bouroullec: Das ist gar nicht leicht. Das Ding ist mehr ein Prinzip, als eine Form. Er ist sehr natürlich, er ist nichts, was wir im klassischen Sinn entworfen haben. Das Gewicht des Objekts, also die Schwerkraft und seine Dimension bestimmen sein Aussehen. Alles zusammen ergibt eine Art hängende Kurve und erinnert irgendwie an eine gigantische Halskette. Wir haben sehr lange mit Modellen daran herumgetüftelt, auch mit billigen Plastikbändern vor Ort in Versailles. Der Luster sieht von jedem Punkt der Betrachtung anders aus. Er wird das erste permanent ausgestellte Kunstobjekt in Versailles sein. Wir dachten an eine Art Fusion und wollten sehr vorsichtig vorgehen. Es ging uns nicht darum, dass die Leute nach Versailles fahren, um ein Stück von den Bouroullecs zu sehen. Es war uns auch kein Anliegen, einen Kontrast zwischen Alt und Modern zu schaffen, auch nicht darum, gegen diesen Platz zu kämpfen, wie dies andere Kreative vor uns in Versailles taten.

STANDARD: Sie sind Franzose, was bedeutet Ihnen das Schloss Versailles?

Bouroullec: Nicht wirklich etwas. Wir waren uns auch sehr unsicher, das Projekt überhaupt anzugehen. Was ich an dieser Geschichte mag, ist der Aspekt, dass Versailles ein sehr populärer Ort ist und der Besucher zufällig auf unsere Installation stößt. Mir fällt diesbezüglich die Strategie der Künstler Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely ein. Ich mag zwar ihre Kunst nicht besonders, aber mir gefällt, dass die Stücke so dimensioniert sind, dass sie so gut wie nicht in ein Museum passen. Auch Versailles ist ein Ort der Öffentlichkeit. Aber der historische Ort bedeutet mir nichts.

STANDARD: Glauben Sie, Ludwig XIV. hätte Ihre Lichtinstallation "Gabriel" gefallen?

Bouroullec: Ich hoffe es. Ich hoffe, sie hätte ihn überrascht, gerade in der Nacht, wenn der Luster weniger stark leuchtet. Früher wäre es übrigens ein Skandal gewesen, diesen Bereich des Schlosses zu beleuchten.

STANDARD: Der Luster wird als Kunstinstallation gehandelt. Die Grenzen zwischen Kunst und Design verschwimmen in vielen Bereichen mehr und mehr. Wie stehen Sie dazu? Brauchen wir diese Grenzen? Müssen sie definiert werden?

Bouroullec: Es interessiert mich überhaupt nicht, sie zu definieren, auch wenn man sich natürlich schon mit dieser Frage beschäftigen kann. Mich interessieren Projekte und Objekte, egal, ob es ein Buch ist, ein Song oder sonst etwas.

STANDARD: Jetzt haben wir 15 Jahre zurückgeblickt. Wo sehen Sie sich in 15 Jahren?

Bouroullec: Keine Ahnung. Darüber denk ich nicht nach. Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist die Freiheit, tun zu können, was wir tun wollen, und mit Menschen zusammenzuarbeiten, die eine gewisse Passion mitbringen .

STANDARD: Und wenn ein Auftraggeber diese nicht hat?

Bouroullec: Wir arbeiten seit Jahren für mehr oder weniger dieselben Unternehmen. Da findet ein konstanter Dialog statt, denn Design ist eine Frage von gemeinsamer Intelligenz.

STANDARD: Wenn Ihr Bruder Erwan dieses Interview lesen wird, glauben Sie, er wird mit Ihren Antworten zufrieden sein?

Bouroullec: Er liest keine Interviews. Ich übrigens auch nicht. Wir sind wirklich sehr frei. (Michael Hausenblas, Rondo, DER STANDARD, 26.9.2013)

Die Reise nach Tirol wurde durch finanzielle Unterstützung von Swarovski ermöglicht.