Eine familiäre Ausnahmesituation führt ungleich Schwestern in einer entlegenen Gegend wieder zusammen: Nora von Waldstätten in Götz Spielmanns "Oktober, November".

Foto: Festival

Filmfestivals sind keine geschützten Öffentlichkeiten mehr, sondern offene Räume mit vielen Anschlussmöglichkeiten. Das wird gerade im Fall von San Sebastián deutlich, wo das Festivalzentrum, nahe am Atlantik gebaut, ein wenig an ein Hafendock erinnert. Hier werden gewissermaßen Waren nach Europa verladen: Eine eigene Schiene widmet sich dem lateinamerikanischen Kino; auch erlangen etliche Filme auf dem spanischen Festival ihre EU-Premiere, die zuerst auf dem "Filmmarkt" Toronto waren - nun jedoch mehr im "Boutique"-Stil gewürdigt werden, wie das der Hollywood Reporter unlängst nannte.

Herbstliches Familiendrama

Einer dieser Filme ist Oktober, November von Götz Spielmann. Fünf Jahre nach seinem großen Erfolg mit Revanche erzählt der österreichische Regisseur in konzentrierten, elegant eingerichteten Szenen (Kamera: Martin Gschlacht) ein Familiendrama, das zuerst in mehrere Richtungen mäandert, um sich dann um einen Sterbeprozess noch einmal zu verdichten. Zwei Schwestern geben Lebenswelten vor, die unterschiedlicher kaum sein könnten:

Nora von Waldstätten verkörpert Sonja, eine etwas klischeehaft narzisstische, entsprechend unaufgeräumte Schauspielerin, die an einem TV-Krimi arbeitet. Ihre Schwester Verena (Ursula Strauss) ist hingegen im kleinen Alpenort geblieben, in dem die Familie einmal ein Wirtshaus betrieben hat, und kümmert sich dort um den herzkranken Vater (Peter Simonischek) und ihr Kind.

Spielmann interessiert sich vor allem für die Entfremdung, welche die beiden Frauen trotz aller Gegensätze wieder eint. Das Ausloten von Frustrationen, die Vermessung der Enge einmal eingenommener Positionen im Leben gelingt im Fall von Verena, die sich als Gefangene begreift, besonders nuanciert: Strauss ist schlicht großartig darin, wie sie in verhaltenen Gesten ihr hungriges Herz durchklingen lässt.

Die Grenzsituation mit dem sterbenden Vater bringt die Schwestern am alten Hof zusammen, aber nicht unbedingt wieder näher zueinander. Die Szene wird zum melancholischen Hintergrund einer Bestandsaufnahme der (Über-)Lebenden, ihrer nicht erfüllbaren Wünsche, ihrer stillen Begehrlichkeiten, die Spielmann immer wieder gelungen in herbstlichen Landschaftsaufnahmen nachhallen lässt. Oktober, November ist dann am stärksten, wenn er das Tiefsinnige nicht erzwingt, sondern ganz sanft anklingen lässt.

Ein weiterer Mitbewerber um die Goldene Muschel von San Sebastián ist der französische Altmeister Bertrand Tavernier, der sich mit seiner galligen Politsatire Quai d'Orsay auf die Pfade von TV-Serien wie West Wing begibt. Der Film spielt beinahe ausschließlich in den labyrinthischen Innenräumen des französischen Außenministeriums, in das wir mit den Augen eines Rookie (Raphaël Personnaz) eindringen, der als neuer Redenschreiber angeheuert wurde.

Cholerisch und inkompetent

Er muss jedoch erkennen, dass der Apparat des Ministers (Thierry Lhermitte) grotesk aufgeblasen ist - und dessen cholerische Natur nur noch von seiner Inkompetenz übertroffen wird. Gäbe es nicht den taktisch genialen Stabschef (herrlich schlafwandlerisch: Niels Arestrup), das Land schlitterte direkt in die Katastrophe.

Tavernier hat sich durch mehr Genres als jeder andere Regisseur seines Landes bewegt. Mit diesem wunderbar schamlosen Film beweist er nicht nur eindrucksvoll sein komisches Talent, er bewahrt sich dabei auch ein analytisches Auge. Denn weit weg von der Realität ist diese Bürokratie, in der Expertisen kaum etwas gelten - ein effektvoller Auftritt vor vielen Zuhörern aber dafür umso mehr -, wohl leider gar nicht. (Dominik Kamalzadeh aus San Sebastián, DER STANDARD, 25.9.2013)