Graz - "Wir wissen nicht, woher sie kommen oder wohin sie gehen werden", sagen Véronique Faucheur und Marc Pouzol vom franko-berlinerischen Atelier le balto über die kleinen, aufgebockten Glashäuser, die sie im Hof des ehemaligen Zollamts errichtet haben. Schwebende Häuser, die wie Zugvögel nur auf der Durchreise rasten. Oder wie Gewächshäuser für die Aufzucht zarter Pflänzchen.
Die Funktion des Zollamts als Durchgangsstelle im Warenverkehr ist an diesem Ort obsolet geworden. Und so beschreibt das Gelände nahe des Bahnhofs einen Übergang ins Ungewisse - einen Zeitpunkt "danach". Grob gezimmerte Rampen und improvisierte Zonen zum Verweilen und Kommunizieren verstärken diesen Aspekt der Passage. Für den Wildwuchs der Pflanzen sind nicht die Landschaftsarchitekten von Atelier le balto verantwortlich, sie haben nur die bestehenden "Akteure" inszeniert.
Ein perfekt choreografierter, metaphorischer Rahmen also für den Steirischen Herbst. Denn dieser widmet sich heuer dieser Zeit nach dem ersten euphorischen Moment der Revolte. Eine Phase des Neuordnens, in der auch bestehende Beziehungen überprüft werden sollen. "Was ist am Tag danach, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen? Welche Allianzen gehen wir ein? Welche Seilschaften, Verbindungen brauchen wir, um etwas zu verändern? Der Grad von Koalition zur Korruption ist ein sehr schmaler", leitete Herbst-Intendantin Veronica Kaup-Hasler bei der Eröffnung am Freitag das Festivalmotiv Alliancen, Mesalliancen und falsche Freunde: Liaisons dangereuses ein.
Eine der gefährlichen Liebschaften, die umfassenden und scharfen Analysen unterzogen wird, ist jene, die Slavoj Žižek, als "ewige Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus" beschrieben hat. Ein Missverhältnis, in dem die Demokratie hörig vor dem sie korrumpierenden Kapitalismus in die Knie gegangen ist. Liquid Assets - im Grunde also "Cash" - heißt die große Herbst-Ausstellung am Festivalgelände, die sich der Funktionsweise des modernen Kapitalismus, Finanzmärkten und deren Politik widmet.
Ebenso wie dem Atelier de balto geht es den Kuratoren Luigi Fassi und Katerina Gregos nicht ums Herausreißen, sondern um ein sorgsames Gärtnern, um ein Zurechtstutzen in richtige Relationen. "Wir müssen dringend den vom Ökonom John Maynard Keynes beschriebenen ‚animalischen Geist' des Kapitalismus zähmen", heißt es im Katalog. Denn "Kapitalismus ist grundsätzlich nicht schlecht - es hängt nur davon ab, wie er ausgeübt wird", erstickt man den Verdacht aufwieglerischen Potenzials im Keim.
Ihren erzieherischen Ton kann die kraftvolle Schau allerdings nicht verhehlen: Live-Bühnenbilder akzentuieren die Dramaturgie von leichtfüßigen Performance-Vorträgen über den diskreten Charme der Meta-Finanz (Goldin+Senneby), Comic-Zeichner dynamisieren Referate von Kapitalismuskritikern wie David Harvey; Handpuppen setzt Jan Peter Hammer ein: Seine Sockenfiguren sind viel zu niedlich, um die diskutierten Strategien zur Demontage des Wohlfahrtstaates zu durchschauen. Es sind perfide Methoden aus Marketing und Werbung, die die Künstler beim Sich-Aneignen auch hinterfragen.
Andere Künstler spüren mittels Handleser dem Charakter der Hochfinanzakteure nach, um der Theorie der marktsteuernden "unsichtbaren Hand" etwas entgegenzusetzen (Danilo Correale), legen nahe, sich mittels Voodoo-Zauber an ebendiesen zu rächen (James Beckett) oder erklären, "Wie man Geld aus Banken abzweigt" (Núria Gül). Sie spielen mit der Mythenbildung rund um die heroisierten Protagonisten des High-Tech-Kapitalismus (Kennedy Browne) oder philosophieren – bilderstark, eindringlich und dennoch zart – über den Begriff des "Wertes" auf heutigen Märkten (Zachary Formwalt). Neben den vielen analytischen und didaktischen Arbeiten sticht der sehr subjektive Zugang von Alexandros Georgiou heraus: Ihm ist eine berührende, poetische Arbeit zu seiner Heimatstadt Athen gelungen. Im Stadtzentrum, das seit der Krise zu einem erbärmlichen Unort geworden ist, spürt er mit einer Billigkamera kleine Inseln des Schönen auf. So etwa ein Sternbild, das er in den Klebeflecken, die Kaugummis am Trottoir hinterlassen haben, zu erkennen vermag.
Immer wieder taucht jedoch der Aspekt der Immaterialität von Geld auf. Im spekulativen, virtuellen Raum der Finanz hockt das Biest, das es auszutreiben gilt. Die künstlerische Aufklärungsarbeit erinnert an ein kolportiertes und mehr als 100 Jahre altes Zitat von Henry Ford: "Wenn mehr Menschen wüssten, wie unser Finanzsystem funktioniert, dann hätten wir morgen früh eine Revolution". Nun trifft die Ökonomie-Nachhilfe in den Kunsträumen aber ohnehin auf ein sehr aufgeklärtes, mündiges Publikum. Es wäre naiv, zu glauben, die Gegenwartskunst, die sich jahrzehntelang durch elitäre Diskurse abgeschottet hat, könne eine wirklich breite Öffentlichkeit erreichen.
Auf die Immaterialität des Geld und die Welt der Hedgefonds schießt sich auch die Performance zur Eröffnung "Economic Theory for Dummies" von Amund Sjølie Sveen ein, der übrigens bereits 2012 während des Marathons "Truth is concrete" Gast beim Herbst war. Damals begeisterte er mit Vergleichen zwischen dem "Oil for Food"-Programm der Vereinten Nationen und der Idee eines norwegischen "Oil for Art". Heuer reiste er Power-Point-gestützt mit Adam & Eva durch die Geschichte des Warenumschlags - von der Utopie gleicher Güterverteilung (symbolisiert mit Apfeltelefonen) über Gralsversprechen der Maximierung bis zum Derivathandel. Auch den Sinn des Lebens brachte Sveen auf einfache, sarkastische Formeln wie "Work, buy, consume, die" oder spitzte die Komik mit ironischen Pointen zu: "Inzwischen gibt es nur noch digitales Geld, weil die Leute der Bank vertrauen. Und das ist gut so." Seine musikalischen Intermezzi mit improvisierten, symbolischen Instrumenten (etwa mit einem zum E-Drum umfunktionierten, unnütz gewordenem Apfel-Notebook – Stichwort "geplante Obsoleszenz") transportieren dazu noch eine parallele Botschaft: Kulturelle Produktion findet ihren Mehrwert jenseits der Akkumulationskreisläufe des Kapitals. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 23.9.2013)