Wien, zweiter Bezirk, Große Stadtgutgasse 28: Draußen weht ein kalter Wind, drinnen haben sich elf Kinder in einen hitzigen Wettkampf gestürzt. Mit höchstem Eifer wird hier buchstabiert, gelesen, geschrieben, nach passenden Bildern zum Text gesucht. Stifte kratzen übers Papier, Wörter und Sätze fliegen durch den Raum. Es ist halb drei Nachmittags. Pause?

Foto: http://www.katsey.org

"Nicht jetzt!"

Nein, nicht jetzt, meint kopfschüttelnd ein achtjähriges Mädchen mit afghanischen Wurzeln. Sie möchte lieber noch ein wenig weiterüben - genau wie ihre zehn Kollegen im Volksschulalter, die unter anderem aus türkischen, kurdischen, serbischen, ägyptischen und tschetschenischen ­Familien stammen.

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Großer Lernhilfebedarf

Seit Ende April dieses Jahres ­besuchen die Kinder Lernleo, das kostenlose Lernhilfeprogramm des Arbeiter-Samariterbundes in Wien. Während des Schuljahres bekommen rund 30 Schüler von sechs bis 14 Jah­ren hier an fünf Nachmittagen Unterstützung bei der Hausübung und Förderung nach ihren je ­individuellen Bedürfnissen. In den Sommerferien steht von ­Montag- bis Donnerstagvormittag Deutschunterricht auf dem Programm.

Damit ist das derzeit ausschließlich über Spenden finanzierte Lernleo des Samariterbundes das bisher jüngste Angebot an kostenloser Lernunterstützung in Wien - neben der Wiener Lerntafel, dem Lernhaus des Roten Kreuzes und der Gratisnachhilfe von Caritas und Wiener Hilfswerk.

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Ehrenamtliche gesucht

"Die Kinder genießen die Aufmerksamkeit, die wir ihnen entgegenbringen und freuen sich über die Materialien, die sie hier zur Verfügung haben", berichtet Lernleo-Leiterin Birgit Greifen­eder. Sie und ihr Team - eine weitere Betreuerin und ein Pädagoge sowie mehrere ehrenamtliche MitarbeiterInnen (es werden übrigens noch Ehrenamtliche gesucht!) - mussten nicht erst lange Werbung für ihre Gratislernhilfe machen. Ein Besuch in den umliegenden Schulen genügte, Mundpropaganda tat das Übrige. "Der Bedarf an außerschulischer Förderung ist extrem groß", sagt Greifeneder. Um neben dem Wiener Pilotprojekt noch weitere Lernleos eröffnen zu können, sei man aber auf Sponsoren angewiesen.

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100 Prozent Migranten

Dass die im Lernleo geförderten Kinder und Jugendliche zu 100 Prozent migrantischen Hintergrund haben, ist freilich kein Zufall. Viele von ihnen haben zu Hause nicht die Möglichkeit, in Ruhe zu lernen, sei es, weil die Raumverhältnisse zu beengt sind, sei es, weil die Eltern selbst keinen Pflichtschulabschluss haben und sich schwertun, ihren Kindern - zumal in einer anderen als der eigenen Muttersprache - bei den Schulaufgaben zu helfen, und nicht zuletzt, weil das Geld für die teure private Nachhilfe fehlt, die oft auch für ­Familien mit durchschnittlichem Gehalt eine finanzielle Zusatz­belastung bedeutet.

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Gleiche Chancen für alle

Immerhin berappt man derzeit für eine Nachhilfestunde bei Privatpersonen im Schnitt um die 20 Euro, für Einzelunterricht in österreichischen Lerninstituten durchschnittlich 32 Euro. Insgesamt, so die aktuellen Zahlen des Nach­hilfebarometers der Arbeiterkammer, geben die Österreicher derzeit 101 Millionen Euro jährlich für Nachhilfe aus, das sind 679 Euro pro Familie.

Vier von fünf Müttern und Vätern pauken in ihrer Freizeit selbst mit dem Nachwuchs und erledigen damit gratis die Arbeit von 48.000 Vollzeitbeschäftigten. Fast zwei Drittel davon tun sich zudem schwer, ihren Kindern fachlich zu helfen, besonders jene, die nicht zur oberen Bildungsschicht gehören. Von jenen, die selbst einen Pflichtschulabschluss haben, sagen 76 Prozent, dass sie ihre Kinder zumindest in einzelnen Fächern nur schwer unterstützen können.

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Kein Geld, keine Förderung

Fehlt das Geld, fehlt oft auch die Möglichkeit der außerschulischen Förderung. Die Gratislernhilfe­projekte vom Lernleo bis zur ­Wiener Lerntafel wollen mit ihrem Engagement einen Beitrag zur Chancengleichheit leisten, eine der zentralen Säulen des erfolgreichen und vielgelobten finnischen Bildungssystems mit seinen sozial durchmischten Gesamtschulen. Private Nachhilfestunden sind in Finnland eher unüblich, die Förderung lernschwacher Schüler ist dort Aufgabe der Schule, nicht der Eltern.

Davon kann hierzulande nur geträumt werden. In der aktuellen AK-Befragung gaben sogar 13 Prozent der Eltern an, dass ihnen von der Schule nahegelegt wurde, private Nachhilfe zu organisieren. Wer seinem Kind schulisch auf die Sprünge helfen will, muss also selbst einspringen, tief in die Tasche greifen oder einen Platz bei einem der Gratisnachhilfeanbieter ergattern.

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Unterschiedliche Aufnahmebedingungen

Dabei sind die Aufnahmebedingungen unterschiedlich. Während etwa bei der Wiener Lerntafel nur Kinder aus nachweislich armutsgefährdeten Familien unterrichtet werden, verzichtet man beim Lernleo auf einen solchen Nachweis. "Wir haben das überlegt, uns aber dagegen entschieden", sagt Birgit Greifeneder. "Die Familien, die zu uns kommen, müssen ohnehin so oft ihre Lebensverhältnisse offenlegen. Das wollten wir ihnen bei uns ersparen."

Ein kurdischer Vater, der seine achtjährige Tochter vom Lernleo abholt, freut sich über die Möglichkeit, sein Kind hier kostenlos fördern lassen zu können. Und er möchte selbst auch gerne sein Deutsch verbessern. Die Chancen dafür stehen gut. Ab Herbst ist beim Samariterbund in der Großen Stadtgutgasse auch Deutschunterricht für Erwachsene geplant. (Barbara Schwarcz, DER STANDARD, Family, 19.9.2013)

Links - folgende Einrichtungen bieten Gratislernhilfe:

www.samariterbund.net
www.lerntafel.at - für Schüler in Not
www.roteskreuz.at - das Lernhaus
www.caritas.at - Lerncafés
www.hilfswerk.at - Kinder & Jugend

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