Wien – Bei der Vorstellung, ihre zwölfjährige Tochter könnte in ein paar Jahren am Abend allein fortgehen, schlägt sich Gloria Linares die Hände vors Gesicht. Sie selbst vermeidet nach 21 Uhr jeden Gang von der U-Bahn-Station nach Hause. Der Weg ist schlecht beleuchtet, und sie hat von Übergriffen auf Frauen gelesen, die entlang ihres Nachhausewegs passiert sein sollen.

Seit sieben Jahren fährt die U-Bahn-Linie U1 direkt in die Großfeldsiedlung im 21. Wiener Gemeindebezirk. Das hat Vor- und Nachteile, wie Linares sagt. "Ich bin jetzt schneller in der Innenstadt, das ist sehr praktisch." Gleichzeitig sei es "unruhiger" geworden und man sehe öfter Menschen auf der Straße, die herumstehen und trinken.

Kein eigenes Schlafzimmer

Bei der Wahl der Wohnung vor 18 Jahren zählten andere Kriterien. Die Entscheidung fiel unter anderem deshalb, weil es viele Kinderspielplätze in der Gegend gibt. "Mir gefiel, dass es grüner und ruhiger ist als in der Innenstadt." Zu dritt, vor der Scheidung zu viert, teilt sich die Familie eine 65-Quadratmeter-Wohnung. Sie besteht aus zwei Kinderzimmern, einem Wohnzimmer, einem kleinen Balkon, Küche, Bad und WC.

Die Großfeldsiedlung gilt als die größte aus Betonfertigteilen erbaute Siedlung Wiens.
Foto: Standard/Hendrich

Mit den Nachbarn im großen Gemeindebau gibt es kaum Schwierigkeiten. "Die meistensind Pensionisten", sagt Linares. Der Hausmeister kümmere sich gut um die Instandhaltung der Gemeinschaftsflächen. Er veranstaltet einmal im Jahr ein Punschtrinken, bei dem alle zusammenkommen.

Linares wurde in Peru geboren, lebt aber seit mehr als zwanzig Jahren in Österreich. Ihre Kinder wurden hier geboren. Ihr Sohn (19) hat eine leichte Behinderung und arbeitet in einer Lehrwerkstatt im zehnten Bezirk, ihre zwölfjährige Tochter besucht eine kooperative Mittelschule, die nur eine U-Bahn-Station entfernt liegt.

420 Euro für 65 Quadratmeter

Dass Linares mit ihren Kindern in der Großfeldsiedlung lebt, hat auch finanzielle Gründe. Die studierte Dolmetscherin arbeitet für 30 Stunden pro Woche an der Kassa in einem Museum in der Wiener Innenstadt, die Hälfte des Gehalts geht fürs Wohnen drauf. Für 65 Quadratmeter zahlt sie rund 420 Euro. "Hätte ich mehr Geld zur Verfügung, würde ich mir etwas Größeres suchen", so Linares.

In der Wohnung gibt es wahrlich Platzprobleme. Es fehlt an Stauraum, im Kellerabteil parken die Fahrräder. Die Kinder haben zwar jeweils ein eigenes Zimmer, Linares muss aber im Wohnzimmer schlafen. Ein mühsames Prozedere: Jeden Abend wird die Couch zum Bett umfunktioniert.

Ihr eigenes Reich ist dafür die Küche, die Linares erst vor drei Jahren neu möbliert hat. Hier kocht die 48-Jährige sowohl österreichische als auch peruanische Gerichte. Auch bei den Kinderzimmern achtet Linares darauf, dass sie hübsch eingerichtet sind. Kräftige Wandfarben zeugen davon. Über dem Hochbett ihrer Tochter haftet ein Wand-Tattoo. "Alle Träume können wahr werden, wenn wir den Mut haben, ihnen zu folgen", ist darauf zu lesen.

Spielplätze und viele Bäume – für Gloria Linares waren das die Gründe, sich im Grätzl anzusiedeln.
Foto: Standard/Hendrich

Auch Gloria hat Träume. Sie wünscht sich eine Maisonnette außerhalb Wiens. Eine größere Gemeindebauwohnung wird ihr nicht zuerkannt: "Ich habe schon nachgefragt, aber die sagen mir, für drei Personen reichen 65 Quadratmeter." Linares überlegt, in eine Genossenschaftswohnung zu ziehen. "Ich spare, aber das kann noch lange dauern." Warum sie aus der jetzigen Wohnung wegwill? "Ich vermisse meine Privatsphäre, meinen eigenen Bereich." (Text: Rosa Winkler-Hermaden, Video: Maria von Usslar, DER STANDARD, 19.9.2013)