Bevölkerungsexperte Wolfgang Lutz fordert, nicht von der Kinderanzahl, sondern von der Bildung der Kinder zu sprechen. Dass ein Drittel der 15-jährigen Burschen nicht sinnerfassend lesen kann, sei das tatsächliche Problem, nicht der Geburtenrückgang.

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STANDARD: Bis heute fürchten sehr viele Menschen, dass das rasche Bevölkerungswachstum zur großen Katastrophe führt. Ist das eine Angst vor einer realen Bedrohung oder reine Spekulation mit einem Schreckensszenario?

Lutz: Es gibt eine Urangst im Menschen, dass etwas Schreckliches passiert, genährt durch ganz reale Katastrophen von der Frühzeit des Menschen bis zur Pest oder dem 30-jährigen Krieg, während dem fast ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahingerafft wurde. Thomas Robert Malthus hat Ende des 18. Jahrhunderts die Sorge vor der Bevölkerungsexplosion in drastischen Worten formuliert. Die große Katastrophe sei unvermeidlich. Diese Apokalypse ist bisher ausgeblieben. Aber es gibt eine berechtigte Sorge: In manchen afrikanischen Ländern  hat sich die Bevölkerung in den letzten zwanzig, dreißig Jahren verdoppelt. Die Staaten kommen angesichts des raschen Wachstums nicht mehr mit – ihre Infrastruktur, ihr Gesundheits- oder ihr Schulsystem hinken nach. Das Problem liegt also mehr bei der Geschwindigkeit des Wachstums. Man kann nicht sagen, dass es insgesamt zu viele Menschen auf dieser Erde gibt. Der Planet würde das aushalten. Es gibt nur zu viele, die benachteiligt sind, keine Bildung bekommen oder hungern müssen.

STANDARD: Wie könnte man dagegen wirken?

Lutz: Ich habe einmal ein dickes Buch über die Insel Mauritius geschrieben. Das Land war in den 1960er-Jahren gefangen in einem Kreislauf aus schnellem Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung und Armut. Daraufhin hat man allen Frauen Schulbildung ermöglicht und Familienplanung angeboten. Da war kein Zwang dahinter, kein chinesisches Ein-Kind-Modell. Und es hat funktioniert – heute hat Mauritius die am besten gebildete Bevölkerung in Afrika und ist auch neben Südafrika wirtschaftlich am weitesten entwickelt.

STANDARD: Warum war es wichtig, vor allem den Frauen Schulbildung zu geben?

Lutz: Es war wichtig, sie durch Bildung zu stärken und auch selbstbewusster zu machen. So können sie sich auch gegen die Männer durchzusetzen, die zumeist mehr Kinder wollen. Der Kinderwunsch ist im übrigen Afrika noch sehr hoch, bei 6 bis 8 Kindern. Analphabetische Frauen sagen auf die Frage, wie viele Kinder sie wollen oft: „So viel Gott mir geben will?" Wenn sie gebildeter sind, verlieren sie diese fatalistische Grundeinstellung und bekommen vielleicht zwei bis drei Kinder. Da ist nicht einmal hochqualifizierte Bildung nötig.

STANDARD: Wie katholische Kirche zu Verhütung steht, ist hinlänglich bekannt. Welche Rolle spielen andere Religionen bei der Familiengründung?

Lutz: Traditionell sind alle Religion pronatalistisch. Es ging ja in der Menschheitsgeschichte darum, das Aussterben zu verhindern. Aufgeklärte Religionen wie die der Protestanten setzten schon früh auf individuelle Bildung und Verantwortung und da ist Familienplanung auch Teil der Lebensplanung. Interessant ist die Situation in konservativen katholischen und orthodoxen Ländern in Süd- und Osteuropa. Frauen sind hier vor die Wahl gestellt, einen erlernten Beruf auszuüben oder bei Kindern zu Hause zu bleiben. Ein Dazwischen gibt es kaum. Deshalb entscheiden sich viele für die Karriere, um unabhängiger zu sein, und bekommen die Kinder später oder gar nicht.

STANDARD: Wie gehen Muslime mit dem Thema Familienplanung um?

Lutz: Den schnellsten Geburtenrückgang in der Menschheitsgeschichte hatte der Iran.  Kurz nach der islamischen Revolution 1979 hatte jede Frau noch durchschnittlich sechs Kinder, jetzt sind es im Durchschnitt unter zwei. Nach dem Ende des Ersten Golfkriegs erkannte man, dass ein Großteil der jungen Menschen arbeitslos war und das Land so keine Zukunft hatte. Daraufhin hat man die Landbevölkerung alphabetisiert und etwas eingeführt, was bis heute einzigartig ist: Wenn ein Paar heiratet, muss es einen zweiwöchigen Kurs belegen. Da lernt man Familienplanung genauso wie den Partner respektvoll zu behandeln. Was ich damit sagen will: Es liegt nicht im Wesen des Islam mehr Kinder zu haben. Wenn muslimische Migranten hierzulande und in Deutschland mehr Kinder haben, dann hat das hauptsächlich kulturelle Gründe. Sie sind meist weniger gebildet und haben die Aufklärung noch nicht voll verinnerlicht.

STANDARD: In Österreich und Deutschland spricht man von Geburtenrückgang. Und beschwört Krisenszenarien wegen einer überalterten Gesellschaft. Wären da nicht mehr Familien mit mehr Kindern ideal? Gibt es eine „ideale" Anzahl von Kindern?

Lutz: Immer wieder ist von der optimalen Zahl 2 die Rede. Das sei, wie es in der Fachsprache heißt, „bestanderhaltend". Diesen Wert erreichen zum Beispiel Frankreich oder annähernd die skandinavischen Länder. Ob die Zahl wirklich ideal ist, hängt aber von den Kriterien ab, vom sozialen Umfeld und wieder einmal von der Bildung. Wenn in einem Land pro Frau nur 1,6 oder 1,8 Kinder zur Welt kommen, dann muss man nicht notwendigerweise alarmiert sein. Dann kann die Gesellschaft umso mehr in die Kinder investieren. Man sollte also darauf achten, dass die Kinder, die wir haben, gut ausgebildet werden. Wenn in Österreich laut Pisa-Studie ein Drittel der Burschen im Alter von 15 Jahren nicht sinnerfassend lesen kann, dann ist das das eigentliche Problem. In dieser Situation nur auf die Kinderzahl und nicht auf deren Bildung zu fokussieren, ist absurd. Diese jungen Männer sind nicht nur weniger produktiv, sondern auch eine potentielle Gefahr  für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

STANDARD: Wie kann der Staat dagegen steuern?

Lutz: Derzeit wird nach jeder Studie, die diese erwähnte Pisa-Studie bestätigt, aufgeregt von dringendem Reformbedarf des Bildungswesens gesprochen. Nach einer kurzen Debatte  geht man aber zur Tagesordnung über. Das ist kurzsichtig. Durch eine intensivere frühkindliche Sozialisation und Begleitung. Im Vorschulalter müssen die kognitiven Fähigkeiten gestärkt werden. Man muss mit den Kindern gemeinsam Bücher anschauen, Tiere erkennen, Gegenstände benennen, gemeinsam Spiele spielen, die sie fördern. Viele Kinder werden nur beaufsichtigt, damit sie keinen Unfug machen. In der Psychologie ist ganz eindeutig erwiesen, dass das zu wenig ist. In der Schule kann man zwar leicht gegensteuern, aber viel Entscheidendes passiert vorher.

STANDARD: Die Sorge um den Rückgang der Geburten ist natürlich größer, weil die Gesellschaft älter wird. Die Medizin macht es möglich. Damit wird aber oft ein gebremstes Wirtschaftswachstum in Verbindung gebracht. Ist das etwa unbegründet?

Lutz: Ich würde auch hier für weniger Alarmismus plädieren. Viele Unternehmer fürchten sich vor dem Alter, meinen, dass junge Mitarbeiter deutlich innovativer sind. Oberflächlich betrachtet stimmt das auch. Firmen mit jungem Personal sind meistens IT-Unternehmen, innovativer und produktiver als andere. Schaut man sich das  nach Sparten an, ist das aber ganz und gar nicht der Fall. Innerhalb der einzelnen Wirtschaftsektoren sind die Unternehmen gut, die eine gute Altersdurchmischung haben. Die Angst vor der alternden Gesellschaft kann man aber auch nationalökonomisch entkräften: Man sagt zum Beispiel, China habe ein schlechteres wirtschaftliches Potential als Indien, weil China sehr schnell altert. Die Realität wird vermutlich anders ausschauen. Zum einen hat in China kaum noch jemand Pensionsanspruch. Die Leute werden dort arbeiten, solange sie können. Zum anderen sind die Chinesen viel besser ausgebildet als die Inder, von denen immer noch fast 50 Prozent Analphabeten sind. Es gibt außerdem bisher keinen empirischen Nachweis, dass es einer alternden Gesellschaft wirtschaftlich schlechter geht als einer jungen. Es gibt aber einen Gegenbeweis: Deutschland ist das gemessen am Durchschnittsalter älteste Land und steht wirtschaftlich heute besonders gut da.

STANDARD: Fazit: Es ist also alles nicht ganz so alarmierend wie es gern dargestellt wird. Die Bevölkerungsentwicklungen sind durch ein Mehr an Bildung gut ins Positive steuerbar. Gilt das auch für die zu erwartenden Migrationsbewegungen aufgrund des Klimawandels?

Lutz: Der Mensch ist ein sehr robustes Lebewesen und hat ein enormes Potenzial sich anzupassen. Und das kann er angesichts des Klimawandels auch besser, je gebildeter er ist. Wir haben das durchgerechnet, wenn ein Hurrikan mit der gleichen Stärke auf Kuba, die Dominikanische Republik und auf Haiti trifft. Kuba hat eine im Durchschnitt gut gebildete Gesellschaft. Hier richtet der Sturm nur Sachschäden an. Im schlimmsten Fall gibt es ein paar Verletzte. Die Dominikanische Republik ist  weniger gebildet als Kuba, aber reicher: Hier verursacht er vielleicht ein dutzend Todesopfer. In Haiti, dem am wenigsten gebildeten Land dieser drei, ist er verheerend und fordert unzählige  Tote. Hier gibt es aufgrund mangelnder Bildung auch weniger soziale und technische Infrastruktur, also weniger Kapazitäten, mit Extremsituationen umzugehen. Man ist weniger vorbereitet. Und die Migrationsbewegungen wird es zwar geben, aber vorwiegend innerhalb des Landes, wie eine aktuelle Studie zeigt. Die Menschen werden sich dort ansiedeln, wo sie besser geschützt sind und die landschaftlichen Bedingungen zwar vertraut, aber günstiger sind für sie als die vorherigen. Das passiert auch jetzt schon so – zum Beispiel in afrikanischen Ländern. (Peter Illetschko, DER STANDARD, 18.9.2013)