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Das Maha-Kumbh-Festival in Allahabad, Indien (aufgenommen am 29. Jänner 2013), das Millionen Hindus feiern und nur alle zwölf Jahre stattfindet und 55 Tage dauert.

Foto: Rajesh Kumar Singh/AP

Um uns der reichlich unmöglichen Frage nach dem Zustand Indiens zu nähern, lassen Sie uns ein sonderbares Faktum herbeizitieren: Es gab Zeiten, da dachte man in Europa, dachte man an Indien, an Wunderdinge und sagenhaften Reichtum. Das mit den Wunderdingen ist obsolet, und was den Reichtum betrifft - man hat bestimmt schon weniger makabre Witze gehört.

Darum lassen Sie uns als Verständnishilfe zunächst eine kleine Batterie von Daten auffahren: 1000, 1192, 1526, 1757, 1947. Und da das nichts anderes als eine furchterregend lange Liste von indischen Jahreszahlen ist, beschränken wir uns auf die Jahre 1000 und 1947. Zwischen diesen spannt sich das immer düsterer werdende indische Mittelalter, mit allem, was dazugehört: Verlust geistiger Traditionen und Werke, Verfall der Kulturstätten, Verknöcherung der Sitten, Armut und hoffnungsloser Fatalismus.

Das so verstandene indische Mittelalter hat aber einen entscheidenden Unterschied zum europäischen Mittelalter aufzuweisen. Es ist bestimmt durch räuberische Fremdherrschaft. Ab dem Jahr 1000, als die afghanisch-türkischen Heere des Schlächters Mahmud von Ghazni den ersten von siebzehn großen Raubzügen nach Indien unternahmen, als sie dabei halb Nordindien leerplünderten und alle Tempel zerstörten, standen immer größere Teile Indiens unter fremder Herrschaft.

Es folgten andere Turkvölker aus Zentralasien, die ihre Reiche in Indien errichteten und das Land ausbluten ließen, schließlich (ab 1526) kamen neue Eroberer, Mongolen-Türken, bekannt als Moghulen, unter denen Teile des Landes eine kurze Zeit sogar aufblühten, bis die Engländer ab 1757 allmählich die Macht in Indien übernahmen. Die Briten raubten, was sie konnten, zerstörten gezielt indische Wirtschaftsstrukturen, um ihre eigenen Waren absetzen zu können, verursachten zahlreiche Hungersnöte (das Wort indischer Holocaust fällt hier immer öfter) und entließen 1947 ein von der Modernisierung ausgeschlossenes Land in die Freiheit.

Wir sprechen von 947 Jahren des massiven materiellen Aderlasses, der Herrschaft fremder Eliten, der Auslöschung oder dauerhaften Entmachtung indischer Eliten, der weitgehenden Zerstörung von Kulturdenkmälern, der massenhaften Konvertierung zum Islam oder später zum westlichen Säkularismus. Womit sich auch die Frage nach dem Reichtum Indiens erledigt hat. Ja, Indien war einmal sagenhaft reich. Und eine Menge Leute hatten davon gehört!

Es ist nicht legitim, jede Schwierigkeit, die der Staat Indien heute zu meistern hat, auf diese historischen Umstände zurückzuführen. Doch will dieser Artikel auch nicht den umgekehrten Fehler begehen, wie er sonst viel zu oft begangen wird: Indiens fortgesetzte Misere unabhängig von diesen Ereignissen zu betrachten, so als hänge die Gegenwart einfach in der Luft. (Es gibt Gründe für diesen Fehler, sie sind äußerst kompliziert, und darunter wittert man auch postkoloniale, gesamteuropäische Verdrängungsprozesse.) Das, was wir in Indien heute sehen, ist nicht die eigentliche indische Kultur und kann es nicht sein. Was wir notwendigerweise sehen, ist der verzweifelte Versuch eines schrecklich Versehrten, wieder zu Kräften zu kommen.

Nach all diesen trüben Zeiten nun hatte sich im 19. Jahrhundert endlich geistiger Widerstand geregt. Es kam zur indischen Renaissance. Erstens weil die Engländer unfreiwillig leisteten, was der Islam im Mittelalter einst für Europa getan hatte: Britische Forscher halfen bei der Entdeckung vergessener Teile der indischen Antike. Und zweitens kam es zu Reformbewegungen und zum Pizza-Effekt. Die Pizza war lange ein Gericht für die Armen in Süditalien gewesen. Doch als die Amerikaner und Deutschen die Pizza begeistert für sich entdeckten, begannen auch die Norditaliener Pizza zu essen. Die Idee der Pizza wurde also aufgewertet und nach Italien reimportiert. Ähnliches geschah mit der indischen Kultur. Weil die deutschen Romantiker Indien für sich entdeckt hatten und weil indische Mönche im Westen Furore machten und mit ihren Vorträgen große Säle füllten, besannen sich die westlich gebildeten Inder, die gerade im Begriff waren, alles Indische aufzugeben, und fanden zu ihrer Überraschung, dass die Kultur ihrer Väter ja doch von Wert war. Ein Wert, den der Kolonialherr ihr stets abgesprochen hatte.

Doch wie steht es um die indische Renaissance heute? Heute ist sie gestreut in kleine, elitäre Zirkel, dann wiederum in große, auf geistige Leichtkost getrimmte Ashrams und Gurus, die unter den Mittelklasse-Indern und hier im Westen oft viele Millionen Anhänger haben. Und dazu gibt es die indische Spielart des Nationalisten, den Hindu-Nationalisten. Dieser Hindu-Nationalist ist aber, trotz seiner disziplinierten Erscheinung, eine verwundbare, seltsame Spezies. Denn er ist medial leicht zu erledigen, wenn man die geeignete Waffe besitzt. Diese Waffe besteht aus zwei stets zum Todesurteil führenden Worten: Faschismus und Fundamentalismus.

Man bezeichne den Hindu-Nationalisten als Hindu-Faschisten oder wahlweise als hinduistischen Fundamentalisten, und er fällt auf der Stelle tot um. Nun hat niemand etwas gegen die verheerende Wirkung dieser beiden Worte in einer historisch bewussten Öffentlichkeit einzuwenden. Alle meine Facebook-Freunde würden hier gelangweilt den Gefällt-mir-Knopf klicken. Nach Lesart westlicher und der englischsprachigen indischen Medien ist aber jedermann in Indien ein solcher Faschist und Fundamentalist, der es wagen sollte, entschieden für die eigene (hinduistische) Kultur zu sprechen. Dabei tut er bloß etwas, das für uns im Westen meist eine Selbstverständlichkeit ist. Der Hindu-Nationalist will ein modernes Indien, das niemandes Kultur blind nachahmt. Aber er darf das auf keinen Fall klar zum Ausdruck bringen. Und dass er das nicht darf, ist der letzte und möglicherweise endgültige Sieg des Kolonialismus.

Postkoloniale Einheitskultur

Dieser späte koloniale Sieg besteht auch darin zu sagen: Ja, ihr habt euer geistiges Leben über Jahrhunderte nicht frei entwickeln können. Wir gaben euch zwar die Freiheit, aber jetzt, es tut uns wirklich leid, jetzt gefallen uns hier im Westen solch Dinge wie Identität, Nationalgefühl und Religion nicht mehr. An diesem Punkt sind wir sehr sensibel, ihr wisst, wir haben da eine Vergangenheit. Deshalb ist dieses ganze Wir-sind-und-wir-glauben-Getue leider furchtbar out. Sorry. Außerdem müsst ihr an die Muslime in eurem Land denken. Also seid schön szientistisch und westlich, seid postmodern und psychoanalytisch (Lacan!), neomarxistisch und zugleich marktkonform, ja, ihr werdet sehen, das macht glücklich und geht alles herrlich zusammen. Schaut uns doch mal an!

Und unser Hindu-Nationalist, der meist zu einem solchen Nationalisten wurde, weil er schreckensstarr erkennen musste, dass seine eigene Kultur auch in der sogenannten Freiheit jetzt keine Rolle spielen sollte (und zum Hindu-Nationalisten, einmal in die Schmuddelecke gestellt, gesellten sich dann viele wirkliche Schmuddelkinder), steckt nun in einem tiefen Dilemma. Er will seine Ideen durchsetzen, aber er kann das nicht so recht, weil Toleranz ein wesentlicher Teil der Kultur ist, die er verteidigen möchte. Der Hindu kann nicht verstehen, dass niemand in der Welt eine seiner Grundlehren kapiert, die da lautet: "ekam sad vipra bahudha vadanti" - "dieses eine Sein benennen die Weisen auf vielfältige Weise".

Dieser Vers ist ein Gründungsdokument des Hinduismus, und er nötigt den Hindu-Nationalisten, auch wenn er manchmal gerne fanatisch sein möchte, alle Zugangsweisen zu einer "höheren" Wahrheit, sprächen sie nun von Allah oder Shiva, vom nirvanischen Nichts oder vom christlichen Gott, oder seien sie agnostisch oder gar atheistisch, als völlig legitim anzuerkennen. Er nennt das sarva-dharma-sambhava - "Harmonie der Religionen/ Lebensweisen". Und das raubt dem Hindu-Nationalisten die Kraft. Und wir, wir müssen uns schweren Herzens über seine Schwäche freuen. Denn der Hindu-Nationalist hat ja zugelassen, dass seine Bewegung verunreinigt wurde - von schmuddeligen Hysterikern und stockdummen Traditionalisten.

Vielleicht also haben meine Facebook-Freunde doch recht, wenn sie sagen, dass kultureller Nationalismus absolutes No-Go sei, boah, dass er so leicht zu dekonstruieren ist und überhaupt total uncool, dass einem da die Ohren vor Abscheu schlackern ... und dann beugen sie sich wieder über ihr nigelnagelneues Sony Xperia Phone, auf der Jagd nach ...

Doch in Indien geht die Geschichte ohne Lösung weiter. Ganz am Ende wird Indien Abermillionen Ingenieure haben, es wird die Eine-Milliarde-Smartphone-Hürde knacken, es wird die besten marxistischen Historiker haben, stupende Ärzte, hunderttausende Filme, ein paar Tausend Wolkenkratzer, es wird seinen patriarchalischen Paternalismus überwunden haben, in dessen dunklem Herzen die Gespenster von vergewaltigten Frauen und abgetriebenen weiblichen Föten lauern, und es wird hoffentlich keinen Hunger mehr leiden - aber das andere, eine weltkulturelle Alternative, die es aus der alten Kultur Indiens zu entwickeln gegolten hätte, wird verschwunden und tot sein. Aufgegangen in der postkolonialen Einheitskultur des neuen Empire, ohne Grab, ohne Grabstein, fast ohne Spur.    (J. F. Dam, Album, DER STANDARD, 14./15.9.2013)