"Dwarf Fortress" verlangt seinen Spielern grafische Abstraktion ab.

Foto: Dwarf Fortress

Mit dem Tool Stonesense wird "Dwarf Fortress" ansehnlicher.

Foto: Dwarf Fortress

Zach und Tarn Adams.

Foto: Adams

Es gibt Spiele, die so außergewöhnlich sind, dass sie totale Hingabe brauchen. Bei "Dwarf Fortress", einer Freeware-Fantasy-Sandbox-Simulation, trifft das sowohl für die Fans als auch die Macher zu. Die Schöpfer von "Dwarf Fortress", Zach und Tarn Adams, sind zwei Brüder, die ihr Leben ganz in den Dienst ihrer großen Vision gestellt haben: die komplexe und möglichst vollständige Simulation einer ganzen Fantasywelt, komplett mit Vorgeschichte, Geologie, Politik und Wirtschaft, bis hin zu Aussehen, Psychologie und einzelnen Körperteilen ihrer Bewohner. Die Komplexität des Spiels übersteige inzwischen jene professioneller mathematischer Ingenieurssoftware, wie sie in der Luftfahrt zum Einsatz komme, berichtete ein ehrfurchtsvoller Artikel in der "New York Times" vor einem Jahr.

Richtig gelesen: "Dwarf Fortress" will nichts weniger als eine ganze Welt zu simulieren. Dass die Brüder Adams auf dem Weg zur Verwirklichung dieser größenwahnsinnigen Vision nicht nur tausende Fans, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit fasziniert haben, beweist die Aufnahme des Spiels, das sich nach wie vor in Alpha-Version befindet, in die Games-Ausstellung des renommierten New Yorker Museum of Modern Arts.

Ohne Grafik in die Matrix

Dass schon allein die Grafik dieses Ausnahmespiels viele neugierige folgerichtig an in ebendiesem Museum ausgestellte abstrakte Kunst erinnert, ist kein Zufall: Grafik im herkömmlichen Sinn gibt es im Grundprogramm nämlich keine – vielmehr kommt das aus klassischen Rogue-likes bekannte ASCII-Zeichenset zur Darstellung der Welt zum Einsatz. So stehen Buchstaben und Symbole in verschiedenen Farben für die Zwerge, Monster und Tiere der Fantasywelt – eine arge Herausforderung für alle Grafikverwöhnten, die sich an "Dwarf Fortress" wagen.

Uneingeweihte kommen sich nämlich beim Anblick der Standardansicht des Spiels verlässlich vor wie Neo beim Anblick der grün schimmernden Symbolkaskaden der Matrix. Zum Glück erleichtern Tilesets und Visualisierungs-Tools wie Stonesense den Blick ins detaillierte Zwergenuniversum ein wenig. Die besten Bilder entstehen aber sowieso im Kopf: Dass "Dwarf Fortress" durch seine umfassende Simulation laufend wahnwitzige Geschichten generiert, visualisierte etwa der Illsutrator Tim Denee in seinen Bildern zur Festung "Oilfurnace". Freunde des Spiels sammeln auf DFStories.com aberwitzige Geschichten, die die Zwergensimulation von selbst hervorbringt. Internet-Berühmtheit erlangte etwa die Nacherzählung des Schicksals der Zwergenfestung "Boatmurdered" – auch heute noch, nach zahllosen Updates von der hier beschriebenen Version, extrem unterhaltsame Lektüre.

Bild: Tim Denee illustrierte die Abenteuer seiner Zwerge.
Foto: Tim Denee

Aufbauspiel plus Weltsimulation

Spielerisch bietet "Dwarf Fortress" in seiner atemberaubenden Komplexität im "Fortress"-Modus eine Mischung aus "The Sims", "Dungeon Keeper", "Sim City" und "Minecraft", dessen Schöpfer Notch übrigens "Dwarf Fortress" als Inspiration für seinen Welterfolg nennt. Aus der Vogelperspektive planen wir für anfänglich sieben Zwerge an einem Ort in der Wildnis eine Kolonie, die sich nach und nach dank Immigranten und Nachwuchs zur blühenden Festung samt riesigen Wirtschaftskreisläufen, Militär, Diplomatie, Romanzen, Überfallen, Belagerungen und frei wählbaren Megaprojekten mausert. Ambitionierte Spieler errichten ähnlich wie in "Minecraft" gewaltige Strukturen, höhlen ganze Gebirge aus oder bauen sogar mit im Spiel verfügbaren Mechanismen funktionierende Turing-Computer.

Bis die Spieler so weit sind, derartige Meisterwerke zu vollbringen, dauert es allerdings ein wenig: Kaum ein Spiel ist so kompliziert in seinem User-Interface wie "Dwarf Fortress". Solange der Simualtionsteil des Spiels nicht unter Dach und Fach sei, sind Kleinigkeiten wie Grafik oder fertiges UI nicht besonders weit oben auf der Prioritätenliste der Entwickler – immerhin ist "DF" ja noch in Alpha. Grund genug für das renommierte IT-Verlagshaus O'Reilly mit dem Buch "Getting Started With Dwarf Fortress" die Zugangshürden etwas niedriger zu legen. Zahllose Youtube-Einführungen sowie ein umfangreiches Wiki helfen Neulingen, die legendäre "learning cliff" des Ausnahmespiels zu bewältigen. Neben dem "Fortress"-Modus bietet der "Adventurer"-Modus die Möglichkeit, im klassischeren Rogue-like-Stil als einzelner Charakter die riesige Welt zu erforschen.

Zwergenzukunft

Seit einigen Jahren lebt der eremitische Entwickler Tarn Adams – der Programmierer des Bruderpaars – von freiwilligen Spenden seiner Fans, die Nah- und Fernziele für sein Lebensprojekt sind für alle Interessierten auf der Homepage einsichtig. 20 Jahre werde es wohl noch dauern, bis das Spiel fertig ist, gestand Adams freimütig dem Branchenblog Gamasutra – angesichts der selbst gestellten Riesenaufgabe vielleicht keine unrealistische Einschätzung.

Die ständig wachsende Fangemeinde des Kultspiels tröstet sich bis dahin mit immer neuen Absurditäten, die bei den regelmäßigen Updates der gratis downloadbaren Version zu stets neuen Überraschungen führen. In welchem Spiel sonst etwa lassen sich durch geschickte Planung alle Spielfiguren in nimmermüde Vampiren verwandeln? Wer die Geduld und Leidensfähigkeit aufbringt, sich in das Komplexitätsmonster "Dwarf Fortress" einzuarbeiten, wird reich belohnt. Oder, um das Zitat aus "Matrix" wiederaufzunehmen: "You get used to it. I...I don't even see the code. All I see is blonde, brunette, red-head ...." Doch Vorsicht: Ist die Einstiegshürde gemeistert, entfaltet "Dwarf Fortress" einen unnachahmlichen Sog. Wie lautet das Motto des Ausnahmetitels: "Losing is fun." (Rainer Sigl, derStandard.at, 13.9.2013)