"Hast du den Schlüssel fürs Büro?", ruft Margot Deerenberg ihrem Nachbarn hinterher, als dieser die Stiegen hinuntereilt. "Ich weiß leider nicht, wo er ist", sagt er und verschwindet. Deerenberg kramt in ihrer Tasche, doch der Schlüssel ist nicht auffindbar. Eine Situation, die ihre Lebensform mit sich bringt, denn Deerenberg teilt sich die Gemeinschaftsräume mit anderen. Einen Schlüssel gibt es aber nicht für jeden.

Zwischennutzungsprojekt als Lebensmittelpunkt

Seit einem Jahr engagiert sich die gebürtige Holländerin bei dem Zwischennutzungsprojekt Trust 111 in einem Haus im fünften Wiener Gemeindebezirk. Die 31-jährige Stadt- und Sozialgeografin schreibt ihre Dissertation über das Projekt. Seit sieben Monaten ist das Haus ihr Lebensmittelpunkt.

Ihr steht dort auch eine 58 Quadratmeter große Wohnung mit zwei Zimmern und einer kleinen Küche zur Verfügung. Zwar hat Deerenberg Warmwasser und eine eigene Toilette, eine eigene Dusche und Heizung fehlen jedoch. "Ich kann aber woanders im Haus duschen oder zu meinem Freund gehen", sagt Deerenberg.

Margot Deerenberg hat für eine temporäre Bleibe schon viel zu viele Dinge angesammelt.
Foto: regine hendrich/derstandard.at

"Mit dem arbeiten, was der Raum zu bieten hat"

Der Putz an den Wänden ist heruntergeschlagen und der Boden abgenutzt. Trotzdem fühlt sich Deerenberg in der Wohnung wohl. "Man muss mit dem arbeiten, was der Raum zu bieten hat, außerdem gefällt mir, dass es hier so viel Licht gibt."

Von außen sieht das Zinshaus wie ein gewöhnliches, etwas heruntergekommenes Wohnhaus aus. Die weiße Fassade bröckelt vor sich hin und ist aufgrund des vielen Verkehrs in der Straße schon schmutzig grau geworden. Die Mauern im Innenhof des dreistöckigen Gebäudes sind von Efeu bedeckt, auf einem von einer bunten Lichterkette umrankten Podest stehen aus Paletten gebaute Sitzgelegenheiten. Am Radparkplatz sind alle Stellplätze mit bunten, teils klapprigen Fahrrädern besetzt.

4,40 Euro pro Quadratmeter

Rechtlich funktioniert die Zwischennutzung über einen Prekariumsvertrag, der jederzeit von beiden Seiten kündbar ist. Für die Nutzung der Räume ist die Vereinsmitgliedschaft erforderlich. Pro Quadratmeter muss ein Mitgliedsbeitrag von 4,40 Euro entrichtet werden. Im Moment gibt es etwa 60 zahlende Mitglieder.

Da Deerenberg im Moment rund um die Uhr für das Projekt arbeitet, fällt der Anteil bei ihr etwas geringer aus. Auf Luxus muss sie verzichten. "Mir macht das nichts aus, es ist eine Frage des Lebensstils." Rund 30 Leute halten sich längerfristig in dem Haus auf. Für eine 60 Quadratmeter große Wohnung ist ein Beitrag von 264 Euro fällig.

Postkästen zwecknah genutzt.
Foto: Regine Hendrich

Ein Haus für Zwischendurch

Mit dem Geld werden die Betriebskosten und andere Anschaffungen, beispielsweise Erde oder Wandfarbe, gekauft. Außerdem wird das Haus durch Veranstaltungen und ein Gästehaus querfinanziert. Dort wird pro Übernachtung um eine freiwillige Spende ab 15 Euro gebeten. Unterschlupf im Haus finden laut Deerenberg auch Leute, denen es schwerfällt, eine Wohnung zu finden oder in eine Wohngemeinschaft hineinzukommen.

Das Zwischennutzungsprojekt Trust 111 läuft seit August vergangenen Jahres. Der 30-jährige Architekt Lukas Böckle hat damals von dem Besitzer des Hauses, der Immobiliengesellschaft Immosys, das Angebot bekommen, dort eine 160 Quadratmeter große Wohnung sowie Dachterrasse und Lager kostenlos zu nutzen. Für die anfallenden Betriebskosten musste er selbst aufkommen.

Als ihm der Eigentümer überraschend das ganze Haus zur Zwischennutzung überließ, gründete Böckle einen Verein und öffnete die Türen für Kunst- und Kulturschaffende, die auf der Suche nach Platz waren, wie auch Deerenberg.

Fahrräder können in der eigenen Fahrradflickerei repariert werden.
Foto: Regine Hendrich

Pionierarbeit in Wien

Deerenberg war in Amsterdam bereits in ähnliche Projekte involviert. "In Wien ist es viel schwieriger, ein riesiges Haus zu finden, das leer steht", sagt sie. Mit Trust 111 werde also auch Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet. Im Moment wird das gesamte Haus kreativ genutzt: Es gibt Künstlerateliers, Proberäume und das Gästehaus.

Weiters befindet sich in dem Gebäude ein Vereinslokal, eine Fahrradküche sowie eine Dachterrasse, auf der die Gemeinschaft ihr eigenes Gemüse anbaut. Wichtig ist für Deerenberg aber nicht nur, was in dem Haus ist, sondern auch, was rundherum passiert. "Ich finde vor allem interessant, wie so ein Haus funktioniert und welchen Einfluss es auf die Umgebung hat", sagt Deerenberg.

Vor allem zu Beginn habe es Probleme mit den Anrainern gegeben. Seit die Nutzung des Innenhofes und der Dachterrasse ab 22 Uhr gesperrt ist, seien die Beschwerden aber viel weniger geworden. "Das liegt daran, dass wir dieses Haus viel intensiver nutzen als ein normales Wohnhaus. Vor allem die Gänge sind ein zentraler Treffpunkt", erklärt Deerenberg.

In diesem Haus sind die Gänge die meistgenutzten Räume.
Foto: Regine Hendrich

Tagelang nicht raus

Die Wände in den Gängen sind mit Graffiti übersät. Überall stehen bunt zusammengewürfelte Sofas und Sessel. Einige von ihnen haben Vormieter im Keller hinterlassen, andere wiederum wurden auf der Straße aufgelesen, erzählt Deerenberg. Mehrere Personen haben es sich in kleinen Grüppchen gemütlich gemacht und rauchen.

"Der Großteil meines Privatlebens findet hier statt. Es hat sich eine Mini-Gesellschaft gebildet, manchmal komme ich hier tagelang nicht raus", sagt Deerenberg. (Text: Elisabeth Mittendorfer, Video: Maria von Usslar, derStandard.at, 12.9.2013)