Nun liegen die Anschläge vom 11. September 2001 zwölf Jahre zurück. Abgesehen davon, dass dieses Ereignis die Kriege im vergangenen Jahrzehnt gerechtfertigt hat, hat es auch in den Köpfen vieler Muslime ein Trauma bewirkt, welches Außenstehende nur schwer nachvollziehen können.

Damals war ich neun Jahre alt

Am 11. September 2001 sah ich im Fernsehen, wie Flugzeuge in zwei Wolkenkratzer flogen. Alles explodierte und brach in sich zusammen. Man hörte die Schreie der Menschen, doch ich fühlte nichts dabei. Anfangs dachte ich sogar, dass diese Szenen aus dem Trailer eines neuen Actionfilms à la Roland Emmerich stammen könnten. Kein Wunder, denn zum damaligen Zeitpunkt war ich neun Jahre alt.

Mich kümmerte es nicht, dass gerade einer der schlimmsten Terroranschläge der Geschichte stattgefunden hatte. Vielmehr war ich wütend darüber, dass meine Lieblingsserie - eine japanische Animeserie, die damals so ziemlich alle Kinder und Jugendlichen verfolgten - aufgrund einer Sondersendung zu den Anschlägen ausfiel. Dank dieser Sondersendung konnte ich übrigens das erste Mal das Bild jenes Mannes bestaunen, den heutzutage jedes Kind kennt: Osama bin Laden.

Dass mir dieser Mann in den darauffolgenden Wochen, Monaten und Jahren noch so viele Probleme bereiten wird, war mir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bewusst. Am nächsten Tag waren die Anschläge das Thema schlechthin, und zwar überall. Sogar in der Volksschule, die ich damals besuchte. In der Klasse gab es nur zwei Schüler mit muslimischem Hintergrund. Mich und ein Mädchen aus Bosnien.

Als die Stunde begann, fing auch die Lehrerin an, über die Anschläge zu sprechen, und meinte, dass sie nicht wisse, warum „diese Menschen" das gemacht haben. Dann sah sie mich an. "Emran, ihr kommt aus Afghanistan, oder? Weißt du, warum die das gemacht haben?", fragte sie mich. Da war ich nun. Ein neunjähriger Junge, der zufällig Muslim war und dessen Eltern zufällig aus Afghanistan stammten, musste sich plötzlich für die Taten von irgendwelchen Terroristen, die Flugzeuge entführt hatten, rechtfertigen. Ich brachte kein Wort heraus, doch von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass man mich wahrscheinlich immer wieder darauf ansprechen wird.

Bist du mit Osama verwandt?

Genauso kam es dann auch. "Bist du mit Osama bin Laden verwandt?" Mit dieser Frage wurde ich damals wohl am häufigsten aufgezogen. Durch diese Art von Mobbing können auch Kinder grausam werden. Diese Grausamkeit des Schulalltags, die ich damals voll zu spüren bekam, bekommen auch heute viele Erwachsene gar nicht mit. Wahrscheinlich ging es zahlreichen muslimischen "Migrantenkindern" ähnlich. Natürlich wusste ich schon damals, dass bin Laden kein Afghane war, sondern aus Saudi-Arabien stammt. Dafür interessierte man sich jedoch herzlich wenig.

"Mein Land"

Mir fällt auch heutzutage des Öfteren auf, dass der Irrtum, bin Laden sei ein Afghane, weitverbreitet ist. Kein Wunder, denn nach dem 11. September wurde nicht Saudi-Arabien angegriffen, sondern Afghanistan. Da unsere Familie damals die einzig bekannte afghanische Familie in der Gegend war, wurden wir natürlich schnell zum Thema der Menschen in unserem Umfeld. Auf dem Hof meinten die Kinder, mit denen ich Fußball spielte, dass der "Dritte Weltkrieg" ausbrechen werde und dass "mein Land" dafür verantwortlich sei.

Ich wusste, dass in Afghanistan seit Jahrzehnten Krieg herrschte. Ich konnte mich an jene Momente erinnern, als die Bilder des vom Bürgerkrieg zerstörten Kabul im Fernsehen ausgestrahlt wurden und mein Vater traurig vor sich hin starrte, während meine Mutter den Tränen nahe war. Dass nun wieder alles von den Amerikanern zerstört werden sollte, machte mir zu schaffen. Es ist ein fürchterliches Gefühl, wenn dir jemand einredet, dass der "Dritte Weltkrieg" in deiner Heimat stattfinden wird.

"Die machen euch fertig!"

Als der Angriffskrieg der Amerikaner und ihrer Alliierten losging, also jene Militäraktion, die unter dem Namen "Operation Enduring Freedom" bekannt ist, gingen die Schikanen auf dem Schulhof weiter. "Die Amerikaner machen euch fertig", riefen mir einige Kinder zu, während sie von US-amerikanischen Kampfjets schwärmten. Ich, der damals keine Meinung zum Geschehen hatte, stand meistens nur schweigend da und nahm alles hin. Manchmal dachte ich mir vor Wut, dass wir hoffentlich "gewinnen" würden.

Wir - das waren in diesem Fall hauptsächlich die radikalislamischen Taliban. Auch sie wurden zum Gespött, denn sogar unter den Schulhofkindern war bekannt, dass die Taliban uralte Waffen aus Sowjetzeiten benutzten und gegen die Amerikaner keine Chance hatten. Mein Bruder, der Omar heißt, war einer von jenen, die die Taliban am meisten verfluchten. Immerhin brachte nun jeder seinen Namen mit jenem des berühmt-berüchtigten Taliban-Führers Mullah Mohammad Omar in Verbindung.

Dieses Problem hatten aber nicht nur die Omars und Osamas dieser Welt. Seit dem 11. September 2001 hat jeder, der den Namen Mohammad oder irgendeinen anderen klar erkennbaren islamischen Namen trägt, mehr oder weniger ein "Problem". Dieses Problem wird immer wieder deutlich, ob bei einem Bewerbungsgespräch oder einer Flughafenkontrolle.

Vom "Exoten" zum "Terroristen"

Vor dem 11. 9. galten Muslime als "exotisch". Länder wie Afghanistan und den Jemen assoziierte man mit orientalischen Märchen à la Tausendundeine Nacht. Mittlerweile denkt man jedoch an Al-Kaida, illegale Drohnenangriffe und Terrorismus. Seit dem 11. 9. nimmt die westliche Gesellschaft den Muslim als etwas Fremdes oder Bedrohliches wahr.

Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich behaupten, dass diese Einstellung auch vor Kindern nicht haltmacht. Man verlangt von muslimischen Kindern vieles. Sie müssen sich in der Schule mehr beweisen als andere, sie müssen mit Vorurteilen kämpfen, und scheinbar wird von ihnen sogar verlangt, sich für Dinge zu rechtfertigen, mit denen sie überhaupt nichts zu tun haben.

Vergangene Woche startete ich gemeinsam mit einigen anderen Journalisten und Bloggern die #SchauHin-Aktion auf Twitter. So wie #aufschrei auf Sexismus aufmerksam machte, legte #SchauHin den Fokus auf Alltagsrassismus. Zahlreiche User beschrieben ihre Erfahrungen. Auch Vorurteile und Hass gegenüber Muslimen fielen auf. Anhand der Tweets konnte man unter anderem feststellen, dass junge Leute damit besonders oft – und wieder mag man es kaum glauben – an Schulen konfrontiert werden. Nicht nur vonseiten der Mitschüler, sondern auch seitens der Lehrpersonen.

Warum das so ist, ist fraglich. Die Schule – ein Ort des Wissens – kann demnach in gewissen Fällen auch ein "Ort des Unwissens" sein. Diese Unwissenheit fördert die Vorurteile gegen die muslimischen Mitbürger und infiltriert andere Schüler schon von klein auf. Es ist die Pflicht der Erwachsenen, hinzuschauen. Kleine Kinder wissen nämlich nicht, wie sie damit umzugehen haben. Sie wissen nicht, was gerade auf der Welt los ist oder welche Parteien gerade an diesem und jenem Krieg beteiligt sind.

Was der 11. September aus mir machte

Mir ging es vor zwölf Jahren nicht anders. Allerdings steht auch fest, dass der 11. September 2001 mich teilweise zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Ohne diese fürchterlichen Anschläge, die darauffolgenden Kriege und den Hass gegen Muslime hätte ich mich wohl nie mit gewissen Themen beschäftigt. Ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, all diese komplexen Themen - von Terrorismus bis hin zu Rassismus - immer wieder aufs Neue zu erläutern. Abgesehen davon, dass ich das nun gerne und mit Leidenschaft mache, habe ich gar keine andere Wahl. Denn gerade zum jetzigen Zeitpunkt ist es nötiger denn je. Jedem, der all dieser Vorurteile und all des Hasses leid ist, sollte sich dieser Pflicht bewusst werden. (Emran Feroz, Leserkommentar, derStandard.at, 11.9.2013)