Rosenberger im Café Industrie am Margaretengürtel.

Foto: Regine Hendrich

Hier fand Ernst Hinterberger die Inspiration für den "Mundl".

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie haben ein Buch über "Politik der Zugehörigkeiten im Wiener Gemeindebau" mitherausgegeben. Wir sitzen im Café Industrie am Magaretengürtel, zwischen einigen der ältesten Gemeindebauten Wiens. Wo sind die Besucher dieses Cafés zugehörig?

Rosenberger: Ich kann konkret über die Besucher dieses Cafés natürlich nichts sagen. Aber wir haben hier in der Umgebung des Margaretengürtels in sechs Gemeindebauanlagen die Frage der Mobilisierung der Zugehörigkeit untersucht. Hier wohnen Menschen, die aus der Arbeiterschicht kommen, Menschen, die der Arbeiterschicht zugehörig sind, aber auch Angestellte und Studenten. Menschen, die keine Arbeit haben und auf Sozialleistungen angewiesen sind, "alteingesessene" Österreicher und von anderen Ländern zugewanderte Menschen.

Der Wiener Gemeindebau erfüllt eine sozialpolitische Aufgabe und ist gleichzeitig sozialer Brennpunkt. Hier findet die Auseinandersetzung um knappen Wohnraum und die Nutzung öffentlicher Räume statt, aber auch um Akzeptanz und Anerkennung, um gefühlte und tatsächliche Zugehörigkeit eben. Der Gemeindebau ist höchst politisch, daher in Wahlkämpfen auch ein Thema an sich ebenso wie Kampffeld für Politiker.

STANDARD: Obwohl oder weil der Ausländeranteil hoch ist?

Rosenberger: Der Anteil der Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft entspricht dem Bundesdurchschnitt und ist niedriger als wien-weit. Aber seit den 1990er-Jahren leben hier relativ viele eingebürgerte Menschen, deutlich mehr als in anderen Wohngegenden. Diese oft relativ raschen Veränderungen im Wohnumfeld führten bei alteingesessenen Bewohnern zu Unsicherheiten über die je eigene Zugehörigkeit. Medien und Politik verstehen es, diese Veränderungen zu instrumentalisieren.

STANDARD: Ernst Hinterberger saß häufig im Café Industrie. Hier entstanden zum Teil "Ein echter Wiener" und "Kaisermühlenblues", große TV-Erfolge. War das Image des Gemeindebaus früher besser?

Rosenberger: Der "Mundl" spielt in den 1970er-Jahren, in einer industriellen Gesellschaft mit organisierter Arbeiterschaft. Es gab damals ziemlich klare Zugehörigkeiten, beruflich und politisch, ein gewisser Stolz auf die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse war durchaus üblich. Heute ist die Arbeiterklasse erodiert, der Anteil der sozial Schwachen in Gemeindebauten ist sehr hoch. Dazu gekommen ist eine rasch wachsende ethnische und kulturelle Vielfalt. Diese beiden Faktoren äußern sich im Alltag oft in inter-ethnischen Nachbarschaftskonflikten sowie im Anstieg fremdenfeindlicher Einstellungen. Bestimmte politische Parteien greifen die Veränderungen im Gemeindebau auf und verstärken zusätzlich die ethnisierte Deutung von Konflikten.

STANDARD: Ist es nicht zu einfach, allein der FPÖ die Schuld an dieser Entwicklung zu geben?

Rosenberger: Das habe ich nicht getan.

STANDARD: Aber das ist doch allgemeiner politischer Konsens: Die FPÖ ist schuld an der wachsenden Fremdenfeindlichkeit.

Rosenberger: In der Tat verfolgt diese Partei seit zwei Jahrzehnten eine gegenüber Zuwanderung weitgehend ablehnende und gegenüber MigrantInnen negativ ausgerichtete Politik. Diese politischen Positionen sickern in den Alltag durch, Stimmungen werden hergestellt und aufgegriffen und Zugehörigkeitspolitik für "Österreicher" gemacht. Zur Zuwanderung äußerten sich in der Vergangenheit aber auch Teile der Gewerkschaft ablehnend - aufgrund von Bedenken gegenüber Niedriglohn-Zuwanderung. Zuwanderung ist eine verteilungspolitische Frage, Zugehörigkeit ist Verteilungspolitik. Denn wer dazugehört, hat Rechte und nimmt teil, etwa am Arbeits- und Wohnmarkt.

STANDARD: Im Roten Wien war der Gemeindebau als Wohnraum für arme Arbeiter auch aus dem Osten der Monarchie gedacht - aus Wiener Sicht waren diese Zuwanderer. In der Zweiten Republik wurden Nichtösterreicher vom Gemeindebau ausgeschlossen. Erst eine EU-Richtlinie hat das repariert. Hat die SPÖ hier versagt?

Rosenberger: Wenn Sie wollen, können Sie das so sehen. Die Grenzziehung zwischen In- und Outgroups erfolgte über weite Phasen der Zweiten Republik entlang der österreichischen Staatsbürgerschaft. Aber man muss auch sehen, dass gerade die Stadt Wien Anfang der 1990er-Jahre, als in Europa massive Wanderungsbewegungen stattfanden, Menschen eher rasch eingebürgert hat. Mit dieser Politik war der Zugang zu Gemeindewohnungen verbunden, aber auch die Vermeidung von Elendsquartieren für Migranten.

Heute ist interessant, dass die FPÖ sich durchaus auch an Zuwanderer als Wähler wendet. Als Strache im Gemeinderatswahlkampf den "Kampf um Wien" ausgerufen und damit semantische Parallelen zur Türkenbelagerung hergestellt hat, hat er sich dezidiert an Staatsbürger im Gemeindebau gewandt, also zwischen Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern unterschieden. Über die "Tüchtigkeit" wurden bestimmte Migrantengruppen zur Ingroup gemacht. Auch Zuwanderer in Gemeindebauten wählten die FPÖ.

STANDARD: Zieht Strache diese Grenze diesmal auch - zwischen Eingebürgerten und Asylwerbern?

Rosenberger: Auf dem "Nächstenliebe"-Plakat spricht er "unsere Österreicher" an - damit sind eingebürgerte Menschen meines Erachtens nicht gemeint, sondern nur "ethnische" Österreicher.

STANDARD: Bei der Wienwahl 2010 war der Nichtwähler-Anteil in Gemeindebauten sehr hoch. Worauf führen Sie das zurück?

Rosenberger: Die eingebürgerten Österreicher mussten auf die Staatsbürgerschaft jahrelang warten, in dieser Zeit hatten sie kein Wahlrecht und kamen oft aus Ländern, wo es das freie, geheime Wahlrecht nicht gab. Diese Gruppe war von der Ausübung demokratischer Rechte entwöhnt. Dazu kommt der Statusverlust vieler alteingesessener Bewohner durch Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialleistungen. Diese Situation zeigt sich heute in der Entkoppelung der Bürger von der Politik, der Entpolitisierung der Institution Gemeindebau.

STANDARD: Treten Sie für kommunales Ausländerwahlrecht ein?

Rosenberger: Ich bin unbedingt dieser Ansicht. Wenn jemand in Österreich verfestigten Aufenthalt hat, soll er oder sie zumindest auf lokaler und kommunaler Ebene wählen dürfen. Das ist ein demokratiepolitisches Gebot.

STANDARD: War es gut, die Einkommensgrenzen für Gemeindewohnungen hinaufzusetzen?

Rosenberger: Das ist grundsätzlich eine gute Maßnahme. Die soziale Gestaltung der Mietpreise ist wiederum eine eigene Frage. Um aber bestimmte Orte politisch und sozial nicht zu polarisieren oder zu exponieren, zu vermeiden, dass sie ein negatives Image aufbauen, ist die soziale und ethnische Durchmischung relevant. Gleichzeitig hat der Gemeindebau die sozialpolitische Funktion, sozial Schwächeren Wohnraum zu verschaffen. Die Staffelung der Mietpreise kann dazu beitragen, beide Ziele zu verfolgen.

STANDARD: Die Mieten steigen relativ stark in Wien. Droht hier ein soziales Problem? Brauchen wir neue Gemeindebauten?

Rosenberger: Wir beobachten, dass Löhne und Gehälter stagnieren und Wohnungspreise steigen. Das erzeugt Spannungen und Konflikte. Angesichts dieser Entwicklung steigt der Bedarf an günstigen Wohnungen. Manche Architekten meinen, es solle weniger reguliert werden, damit dichter bebaut werden kann. Die Diskrepanz zwischen Einkommen und Mieten jedenfalls zeigt, dass die Gesellschaften europaweit ungleicher und konfliktvoller werden und dass diese Entwicklung insbesondere die größeren europäischen Städte betrifft.

STANDARD: Progressive Architekten der Ersten Republik wollten zweckmäßige und schlichte Inneneinrichtungen für den "neuen Menschen" im Gemeindebau schaffen, beklagten sich aber über die "Zierdeckchen" -Seuche unter den Bewohnern, die heute noch grassiert. Eine neue Arbeiterschicht mit avantgardistischem Geschmack war wohl eine Illusion?

Rosenberger: Der Gemeindebau ist zwar weltweit ein Unikat, gleichzeitig aber nichts Besonderes. Letztlich wohnen hier Menschen mit üblichen individuellen Bedürfnissen, durchaus auch bürgerlichem und kleinbürgerlichem Geschmack. Das war in der Vergangenheit so, das ist heute so. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 6.9.2013)