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Erdem Gündüz stand noch einmal - für Fotografen auf der Glienicker Brücke in Potsdam.

Foto: APA/EPA/Hirschberger

Als die Polizei mit Tränengas und Wasserkanonen den Taksim-Platz in Istanbul von seinen demons­trierenden Bürgern gesäubert hatte, kam Erdem Gündüz und stand. Knapp acht Stunden, vom frühen Abend bis nach Mitternacht, Hände in den Hosentaschen, den Blick stur auf den Kulturpalast mit dem Porträt des Republikgründers Atatürk an der Stirnseite des Taksim-Platzes gerichtet, forderte der Aktionskünstler vergangenen Juni das regierende konservativ-religiöse Establishment heraus.

Drei Monate später lassen die Fotografen den türkischen Tänzer auf der Glienicker Brücke posieren. Gündüz erhielt am Donnerstag den diesjährigen Preis des internationalen Medienforums M100 in Potsdam. "Mit seinem stillen Protest wurde er zur Ikone des friedlichen Widerstandes und fand weltweit Nachahmer", heißt es in der Begründung des Beirats des M100 Media Awards. Gündüz ist ein bescheidener Mann. Die Ehre gebühre allen, die auf dem Taksim-Platz für den Erhalt des angrenzenden Gezi-Parks und für mehr Demokratie demonstriert hatten, sagte der 34-jährige Türke, der auch ein Kandidat für den Sacharow-Preis des Europaparlaments ist.

Ausgestanden ist nichts. Kaum ein Tag vergeht in der Türkei, an dem nicht sichtbar wird, wie tief die knapp zwei Wochen dauernde Besetzung des Gezi-Parks und die Massenproteste im Zentrum von Istanbul den Staat erschüttert haben. "Gezi" ist die Spukformel der türkischen Politik geworden.

"Ich bin verrückt nach Grün"

Vor allem Tayyip Erdogan, der seit mehr als zehn Jahren regierende Premier, kann sich nicht über die Generation der 20- und 30-jährigen Türken beruhigen, die ihn persönlich herausforderten und wegen der von ihm angeordneten Zerstörung eines Parks seinen Rücktritt verlangten. "Ich bin verrückt nach Grün", behauptete Erdogan dieser Tage bei einem Treffen europäischer Ombudsmänner; die Türkei pflanze mehr Bäume an als jeder Staat in der EU, versicherte der Regierungschef.

"Ein paar Plünderer" hatte er die Zehntausenden auf dem Taksim-Platz genannt, und als "capulcu" - der türkische Begriff dafür - von der Protestbewegung im Handumdrehen zum Modewort gemacht wurde, legte Erdogan Wochen später unbeirrt nach: Als "Nagetiere" beschrieb er die Protestierenden, die Löcher in das Staatsschiff fressen, in dem 76 Millionen Türken sitzen.

Erdogans unversöhnliche Haltung, so scheint es, hat die türkische Gesellschaft nur weiter polarisiert: auf der einen Seite die frommen Konservativen, auf der anderen die Liberalen und rechten Nationalisten. Als sich die Staatsspitze vergangenen Sonntag zum Festakt zur Eröffnung des neuen Justizjahres nach der Sommerpause einfand, mussten sich Erdogan und seine Minister eine Strafpredigt anhören. Pluralismus sei in einer Demokratie wichtiger als die Herrschaft der Mehrheit, sagte Metin Feyzioğglu, der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammern, in seiner Rede. Erdogans Justizminister schäumte vor Wut. Diejenigen, die durch Mehrheitswahl in ihr Amt gekommen seien, hätten kein Recht, anderen den Pluralismus zu empfehlen, sagte er mit Blick auf Feyzioglu.

715 Demonstranten waren allein in Istanbul von der Polizei festgenommen worden, so lautete ein Zwischenstand der Staatsanwaltschaft Ende Juli. Die Verhaftungen angeblicher Organisatoren der Proteste setzen sich derweil auch in Izmir und Ankara fort. Unternehmen der Koç-Gruppe, der größten Industriegruppe im Land, erhielten Besuch von der Steuerfahndung. Dass es sich um Revanche handelte, weil ein Hotel von Koç den Gezi-Demonstranten Zuflucht geboten hatte, wies die Regierung zurück. Sie fürchtet den Neustart der Gezi-Bewegung und hat nun Polizeiposten an den Universitäten stationiert. (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 6.9.2013)