Vergiss nicht, dir die Wahlunterlagen zu besorgen - jede Stimme zählt", schrieb neulich eine Freundin dringend per E-Mail. Gemeint war die deutsche Wahl. Die Freundin ist Mitglied der SPD, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich ihr einen Gefallen tun könnte und den Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück stärken. Kostet ja nichts und tut auch nicht weh. So weit ist es also gekommen. Von Österreich aus eine Partei wählen, die, lebte ich noch in Deutschland, vermutlich mein Kreuzchen nicht kriegte. Einfach so, aus Nettigkeit.

Demokratisch verludert

Ich gehöre zu der von Rainer Bauböck im Standard (vom 19. August 2013: Ein Wahlrecht mit Demokratiedefizit) so benannten "größten Zuwanderergruppe", für die es "als EU-Bürger kaum Anreize, gibt sich einzubürgern", deren demokratisches Verantwortungsbewusstsein im Ausland aber offenbar verludert. Man kann die Sache nicht trocken pragmatisch abhandeln, denn hier geht es um politische Psychologie.

Wir Deutsch-Ausländer befinden uns ja in einem eigenartigen Zwischenstadium, nicht Fisch, nicht Fleisch, werden mit der Zeit immer österreichischer und hören doch nicht auf, irgendwie germanisch zu sein. Die Identifikation mit der neuen Heimat ist schon ziemlich groß, aber doch nicht groß genug, um in Österreich die Staatsbürgerschaft beantragen zu wollen.

Aber ich würde gern hier wählen. Denn mittlerweile geht mir näher, wie viel Prozent Strache einfährt oder ob man mit einem Kanzler Spindelegger leben könnte, als in Deutschland irgendeine Partei zu stärken, deren politisches Personal ich nicht mehr richtig kenne.

Natürlich interessiert mich Deutschland, ich habe Freunde und Familie dort, ich lese deutsche Zeitungen, fahre öfter hin. Aber nach mehr als sechs Jahren Abwesenheit wird das Land abstrakter, seine Kultur und Politik erscheinen schemenhafter - wer war noch gleich Finanzminister in Berlin?

Das Feingefühl geht verloren, die Dringlichkeiten verschieben sich, plötzlich fällt Nichtwählen genauso leicht wie irgendetwas wählen - alle Parteien scheinen möglich. Das ist keine gute Basis für eine begründete politische Entscheidung, und vermutlich denken viele so. Nach Angaben der Pressestelle des deutschen Bundeswahlleiters lassen sich im Schnitt weniger als zehn Prozent der Auslandsdeutschen ins Wählerverzeichnis eintragen.

Unter gegenwärtig zunehmend migrantischen Lebensbedingungen ist nicht einzusehen, warum das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft geknüpft sein soll. "Nimm's nicht übel, aber das sind die Regeln", sagt mein Frisör, und das klingt, als sollte man der Republik Österreich erst mal ein echtes Opfer bringen, bevor man hier wählen darf.

Europäische Lösung

Die Sache ist mit einem Entweder/Oder nicht zu entscheiden. Wer sollte denn in einem Land politisch entscheiden dürfen, wenn nicht die Menschen, die halbwegs dauerhaft darin leben? Sinnvoller und die bessere europäische Lösung wäre es, den Einwohnern nach einer gewissen Aufenthaltsdauer - sagen wir nach fünf bis zehn Jahren - freizustellen, wo sie wählen möchten, im Heimatland oder in dem Land des Lebensmittelpunkts.

Solche Kompromisse gefallen den Verfechtern klarer Identitätszustände natürlich nicht. Aber das Wahlrecht in seiner gegenwärtigen Form erzieht zu bürgerschaftlichem Schlendrian und macht den kulturellen Limbo-Zustand der Migranten auch zu einem politischen. Ich werde mich also zurücklehnen, die Österreicher für verrückt halten in ihren Stronachiaden und zugleich befremdet zuschauen, wie die Deutschen nun endgültig ihre Merkel-Monarchie ausrufen.

Eine Stimme weniger

Vor die falsche Alternative gestellt, kann man sich nicht richtig entscheiden: Ich habe keine Wahlunterlagen angefordert. Eine Stimme weniger für die SPD. (Andrea Roedig, DER STANDARD, 5.9.2013)