Angesichts der Widerstände und der Sorge vor unkontrollierbaren Folgen brennt die Frage nach einem tieferen Sinn eines US-Militärschlags gegen Syrien allen Beobachtern unter den Nägeln. Ein hochrangiger europäischer Militärstratege, der nicht genannt werden will, verweist in einer Korrespondenz mit dem Standard auf die - immerhin mit einem Vorwort des US-Präsidenten versehene - US Defense Strategy von 2012 ("Sustaining U.S. Leadership: Priorities for 21st Century Defense") als Referenz. Darin, wie auch in dem übergeordneten Dokument, der National Security Strategy 2010, hat die Eindämmung von Massenvernichtungswaffen (WMD) eine besondere Priorität.

Als eine der "Primary Missions for the U.S. Armed Forces" wird angeführt, dass US-Streitkräfte "eine Reihe von Aktivitäten durchführen, um die Verbreitung und den Gebrauch von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen zu verhindern", was Operationen mit einschließt, WMD und ihre Komponenten und die Mittel und Anlagen, um diese herzustellen, "zu lokalisieren, zu beobachten, aufzuspüren, zu ergreifen und zu sichern". Und die USA würden auf WMD-Gebrauch reagieren, sollten Präventivmaßnahmen scheitern, heißt es da.

Die Bekämpfung von WMD, als "national interest" formuliert, habe mit Sicherheit ein höheres Gewicht bei der Entscheidungsfindung als die Unterstützung der Rebellen (derer, die dem Westen genehm sind), so der Militärstratege. Eine Theorie besagt ja, dass die USA - zumindest als Nebeneffekt - die Rebellen nach militärisch verlustreichen Zeiten stärken wollen, um das Kräfteverhältnis vor eventuellen Verhandlungen in Genf auszubalancieren.

USA geben Rätsel auf

US-Außenminister John Kerry griff vor dem Senatsausschuss auch den Aspekt auf, dass die C-Waffen in die Hände von islamischen Extremisten fallen könnten, die sie "gegen unsere Alliierten und Freunde" einsetzen könnten. Wie die USA jedoch ohne direkten Einsatz ("no boots on the ground"), nur mit Luftangriffen, die syrischen Waffen sichern wollen - oder ob das Szenario, dass Extremisten C-Waffen bekommen, durch einen US-Angriff nicht sogar wahrscheinlicher wird -, darüber rätseln Experten.

Ebenfalls in die Verteidigungsstrategie gehört Kerrys Argumentationspunkt, dass Untätigkeit die falsche Botschaft an Teheran wäre, das sich ermutigt fühlen könnte, ein Atomwaffenprogramm zu verfolgen. Kerry nannte auch Hisbollah und Nordkorea als Adressaten der Botschaft, dass eine selbstgezogene rote Linie von den USA ernst genommen werde.

Die USA nehmen sich demnach selbst beim Wort, sie folgen ihrem Strategiepapier, gewissermaßen ohne Rücksicht auf Verluste, denn Bedenken gibt es ja trotzdem. Es ist nicht außer Kraft gesetzt, was Generalstabschef Martin Dempsey am 19. August in einem Brief an den Kongressabgeordneten Eliot Engel in Beantwortung von dessen Frage schrieb: dass ein Eingreifen die Gefahr mit sich bringe, dass die USA danach immer tiefer in den syrischen Sumpf hineingezogen würden.

Und ein Militärschlag gegen das Assad-Regime ist immer gleichzeitig auch einer zugunsten der Rebellen. Dempsey schrieb: "Ich glaube, dass die Seite, für die wir uns entscheiden, bereit sein muss, die eigenen und unsere Interessen zu vertreten, wenn die Balance zu ihren Gunsten verschoben wird. Das ist heute nicht der Fall."

Entspannung in Gefahr

Bleibt die Frage nach dem Iran, denn gleichzeitig steht ja ein Normalisierungsanlauf zwischen Washington und Teheran an. Ob der neue Präsident Hassan Rohani stark genug ist, Kompromisse im Atomstreit zu schließen, wenn gleichzeitig in Syrien - das Saudi-Arabien als Schlachtfeld gegen den Iran betrachtet - eskaliert wird, ist fraglich.

Andererseits sind C-Waffen ein sehr sensibles Thema für den Iran, der im Krieg mit dem Irak schreckliche - von den USA nicht kritisierte - Giftgasangriffe zu erleiden hatte (auch Teheran setzte C-Waffen ein, aber in geringerem Ausmaß). Ein nachweisbarer Giftgaseinsatz des Assad-Regimes könnte Teheran letztlich die aus ideologischen Gründen - Stichwort "Widerstand" - so schwierige Distanzierung von Assad erleichtern. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 5.9.2013)