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Im Fokus des Dokumentaristen Errol Morris: Donald Rumsfeld.

Foto: AP/COOK

Die Metropolen und Megacities haben ausgedient. Das Weltkino, so ausschnitthaft es sich beim 70. Filmfestival von Venedig präsentiert, will zurück zur Natur. Raus aus der Stadt, das heißt keineswegs rein ins Idyll: In friedlichen Wäldern lauern Wegelagerer, es wird gesprengt und gemordet. In Schottland fährt eine dunkelhaarige Femme fatale mit dem Körper von Scarlett Johansson in einem weißen Kastenwagen die städtische Peripherie und die Highlands ab. Wenn ihr draußen einer auffällt, dann spricht sie ihn an. Wenn er einsteigt, dann ist er schon verloren. Im audiovisuell berückendsten und bedrohlichsten Verführungsspiel seit langem wird er bald buchstäblich untergehen.

Der Brite Jonathan Glazer, Spezialist für visuell zündende (Werbe-)Ideen, hat mit dem kühlen Thriller Under the Skin seinen dritten Kinofilm vorgestellt. Dieser basiert auf dem gleichnamigen Roman von Michel Faber, aber schon die ersten Szenen lassen ebenso an Claire Denis' Trouble Every Day und dessen Hauptdarstellerin Beatrice Dalle denken. Allerdings geht es bei Glazer nicht um Blut und Fleisch, er spielt mit anderen Materialien, Oberflächen und Effekten. Präzise gesetzte filmische (und musikalische) Interventionen, eine Ahnung von Science Fiction punktieren die gewöhnliche Gegenwart und erzeugen subtilen Horror, schon halb verwehte Melancholie.

"Shock and awe", Entsetzen und Ehrfurcht, spielen auch bei Errol Morris eine Rolle: Sie gehören, wie der Titel des Films The Unknown Known, zum Phrasenfundus jener zeitgenössischen Persönlichkeit, deren Profil der US-Dokumentarist (The Fog of War) erstellt. Der Titel entstammt einem jener unzähligen Memos, die der Ex-US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Laufe seiner Politkarriere abgesetzt hat. Inzwischen füllen diese ein Archiv - und sie bestimmen im Film einen Wesenszug des Protagonisten (der die Memos selbst als "Schneeflocken" bezeichnet).

Morris - der an elf Tagen insgesamt 33 Stunden Interview aufgezeichnet hat - hat den inzwischen 81-jährigen Rumsfeld vor neutralem Hintergrund platziert. Er wird in Nahaufnahme gefasst, ihm gegenüber, fürs Publikum nur hörbar, sitzt der Filmemacher und wirft Fragen ein. Manches wird von Archivmaterial und zwei, drei wiederkehrenden Sinnbildern illustriert - oder konterkariert.

Morris' Zugang ist nicht investigativ. Rumsfeld erscheint in den eindreiviertel Stunden des fertigen Films weitgehend als Selbstdarsteller, der zunehmend weniger klug wirkt, als er beabsichtigt. Strukturelle Zusammenhänge werden etwa sichtbar, wenn es ums "wording" geht und Rumsfeld während des Irakkriegs an seinen Stab Wörterbuchdefinitionen ausschickt. Grundsätzlich bleibt Morris aber immer auf die Einzelfigur fokussiert - das macht den Reiz seiner Filme aus, darin liegt aber auch ihre Beschränkung. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 5.9.2013)