Ennui in Kalifornien: Lindsay Lohan und James Deen in Paul Schraders seifenglattem Neo-Noir "The Canyons".

Foto: Filmfestival Venedig

Am Podium im Pressekonferenzraum sitzt Paul Schrader, der Autor beziehungsweise Regisseur von Klassikern der Filmgeschichte wie Taxi Driver und American Gigolo, und sagt: "Heute bin ich ein freier Mann. Die letzten 16 Monate war ich die Geisel einer sehr talentierten, aber unberechenbaren Schauspielerin. Sie wollte heute hier sein, aber sie ist es nicht."

Die Schauspielerin, deren Erscheinen in Venedig am Freitag vergeblich erwartet wurde, ist Lindsay Lohan, die seit einigen Jahren mehr mit privaten Exzessen und Gerichtsterminen als mit ihrer Arbeit Schlagzeilen macht. Ihre Zusammenarbeit mit Schrader ist ebenfalls bereits notorisch, seit die New York Times im Jänner eine Reportage dazu veröffentlichte. Der gemeinsame Film heißt The Canyons. Er wurde über eine Kickstarter-Kampagne finanziert, hatte ein Mikrobudget von rund 150.000 US-Dollar und wird nun außer Konkurrenz in Venedig gezeigt, wo Schrader derzeit auch der Jury der Sektion Orizzonti vorsitzt.

Intrigen in Malibu

Es geht in The Canyons um den gelangweilten, finanziell abgesicherten Christian, der in einer Designervilla in den Hügeln von Malibu residiert, sich im Filmbusiness umtut und zum Sex mit seiner Freundin Tara (Lohan) gern andere Männer oder Paare dazuholt. Christian (James Deen), der sich als Libertin gibt, ist allerdings vor allem auf Kontrolle aus. Als er vermuten muss, dass sich Tara tatsächlich für einen anderen Mann interessiert, startet er eine Intrige mit fatalen Konsequenzen.

Der Stoff, die Dialoge und der Look des Films gereichten einer Seifenoper zur Ehre. Das Drehbuch stammt immerhin vom US-Schriftsteller Brett Easton Ellis, der bei der Pressekonferenz sagt, dass er einen klein skalierten Neo-Noir-Film im Sinn gehabt habe, der sich aber trotzdem auch eine geradezu selbstparodistische American-Psycho -Reminiszenz in die Geschichte geschrieben hat.

Schrader sagt noch, The Canyons sei als Film für die "post-theatrical era" gedacht, in welcher Kinos schließen - die Titelsequenz besteht aus Fotos von solchen traurigen Ruinen - und Filme dafür am Computer und überall sonst passieren. The Canyons wird wohl vor allem als eine Verdichtung solcher Gegenwartsphänomene, als schillernde Momentaufnahme in Erinnerung bleiben.

Den Freitag prägen weitere US-Amerikaner: Nicolas Cage spielt den Titelhelden in David Gordon Greens Joe (der zweite Spielfilm, den der Regisseur heuer im Wettbewerb eines A-Festivals vorstellt, für Prince Avalanche hat er bei der Berlinale den Regiepreis erhalten).

Unruhe unter Randexistenzen

Der Film beginnt mit Gary, dem halbwüchsigen Sohn eines gewalttätigen Trinkers ohne feste Bleibe. Aber Joe wird bald das Zentrum des harten, aber nie unbarmherzigen Dramas nach dem Roman von Larry Brown sein: ein Mann, der sich trotz seiner Vorlieben und seines Vorlebens eine Existenz als geachteter Chef eines Trupps von Waldarbeitern aufgebaut hat. Nicht erst ab dem Zeitpunkt, als Gary bei Joe nach Arbeit fragt, senkt sich eine gefährlich brütende Unruhe über die Community von randständigen Figuren irgendwo im amerikanischen Süden.

Green beweist neuerlich sein Talent fürs Inszenieren von ein Stück weit unergründlichen Stimmungen, für Interaktion als (Sprach-)Melodie und Rhythmus. Und sein Hauptdarsteller zeigt einmal mehr, welche Qualitäten er als Charakterdarsteller hat - nicht zuletzt dadurch, wie unaufdringlich und selbstverständlich er sich hier in ein heterogenes Ensemble mit vielen Laien einbringt. Ganz unmanieriert, mit der angemessenen Gravitas, aber auch jederzeit zu jedem heftigen Ausbruch und Umschwung bereit.  (Isabella Reicher aus Venedig, DER STANDARD, 31.8./1.9.2013)