Der Sommer neigt sich dem Ende zu. War er ein großer, ein nicht enden wollender? Ein sich zeitlos ausrollender? War er summertime and the living is easy oder bloß Sommerzeit qua Chronograf -1?
Zeit vergeht übrigens nicht, Zeit ist per se ständiges Weitergehen und als diese Bewegung paradoxerweise zeitlos. So wenig wie Feuer brennt oder Wasser an sich selbst ertrinkt. Zeit ist eine Existenzform, die man so oder so nehmen kann. Manche finden sie großartig, andere weniger.
Letztens im Dojo - sprich doo-dscho=japanisch, Ort des Weges, diesfalls Übungshalle fürs japanische Bogenschießen - Gespräch in der Garderobe. Der Komponist in unserer Truppe, der eines seiner strengen Streichquartette mit dem Titel Zerstörung des Zimmers / der Zeit versehen hat, schreibt an einer Arbeit über John Cage. Wie ist Zeit im Zen?, fragt er mich beiläufig. (Cage lernte bei Daisetz Suzuki an der Columbia darüber.)
Fallen nicht Zeit und Zeitlosigkeit im Zen in eins zusammen?
Das provoziert den Akademiker, im Uni-Diskurs ist kein Platz für Esoterik. Wenigstens der Identitätssatz A=A sollte gewahrt werden. Er kontert mit Augustinus. Gegenwart sei eine Art Membran, mal dicker, mal dünner, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine das Noch-nicht und das Nicht-mehr trennende Membran. Der Raum der Wirklichkeit, der, darf man Neuro-Forschern glauben, ein genau zu bestimmendes Wirkungsquantum hat, irgendwas zwischen null und einer Sekunde hoch minus irgendwas. So kurz wäre Gegenwart, so knapp ist die Zeit, seriös betrachtet.
Unsere Zen-Meisterin hüstelt jenseits des Sichtvorhangs belustigt. Vergangenheit, Zukunft, Gegenwartsmembran, kichert sie, lauter Konstrukte. Unbeholfene Kartografie eines nicht voll zu erfassenden Gebiets. Weder mehr noch weniger esoterisch als die Formel Zeit=zeitlos.
Bestimmte Sprachspiele müsse er einfach befolgen, meint dazu trocken der Komponist, sonst können wir nicht mehr miteinander sprechen.
Hier mischt sich der Burgschauspieler ein, der im Privatleben Adept der japanischen Teezeremonie ist. Der Mensch, habe er wo gehört, glaube, die Zeit zu betrachten, doch die Zeit betrachtet den Menschen.
Wir verstehen nur Bahnhof. Er weiß auch nicht mehr, wo er das herhat, aus welchem Stück oder Buch. Er wird nachsehen.
Sieh mal, lenkt der Komponist ein, warum ich angefangen habe, das japanische Bogenschießen zu betreiben: Im Moment des vollen Auszugs soll man, das Ziel im Auge, den Pfeil gerichtet, einige Sekunden in der größten Spannung verharren. Da, an dieser Stelle, dehnt sich die Zeit. Als träte sie hier, am Ereignishorizont, quasi auf der Stelle, würde langsam-gegen-unendlich. Wäre keine augustinische Membran mehr, sondern reine Gegenwart - jedenfalls bis der Schuss fällt und wir wieder in die normale ontologische Diät zwischen Vergangenheit und Zukunft geraten.
Takuan, ein Zen-Priester des 17. Jahrhunderts, selbstbewusst, zugleich am Rand der vom Tokugawa-Shogunat erlaubten Realität, daher bedroht vom verordneten Harakiri, in den Norden verbannt und vom dritten Shogun wieder zurückgeholt als Berater in Bewusstseinsfragen - ein ihm eher lästiger Posten, der ihn in Edo, dem heutigen Tokio, aufhielt, wo er doch lieber wieder in den Südosten ziehen wollte, in die Stille seines bescheidenen Heimattempels - schließlich baut ihm der Shogun gar eine eigene Tempelanlage im Süden Edos, unterhält Personal, das darüber wacht, dass der Begünstigte nicht bei Nacht und Nebel Reißaus nimmt - dieser Takuan liebte die ihm aufgebürdete staatsmännisch zu nützende Zeit nicht. Beratungstätigkeit erfordert einen weit aufgespannten Zeit-Rahmen, der sich der persönlich wertvollen Zeit überlagert, sie überdeckt und neutralisiert. Dann aber ist alles bedingt und vergänglich und der Zugang zur wirklichen Wirklichkeit verschlossen - so wie der Reiche, der nicht durchs Nadelöhr kommt, weil er zu fett ist.
In einem berühmten Text zum Schwertkampf (famos neu ins Englische übersetzt vom Japanologen Peter Haskel) hat Takuan beschrieben, wie man zur unbewegten Weisheit, zur absoluten Zeitlosigkeit vordringt, nämlich paradoxerweise durch radikale Verzeitlichung. Nicht auf etwas Einzelnes dürfe man sich konzentrieren, auf kein externes Ding, auch auf kein etwa durch Reflexion vorgegebenes Thema; weder auf die eigene Furcht noch auf die Technik, sei es die eigene oder die des Gegners, auf keinen einzelnen Kunstgriff, auf nichts, das man plant und sich vorstellt. Sondern man hätte sich, heute würde man sagen: ganzheitlich der Situation zu überlassen, dann erst könnte sich ihr der Organismus perfekt einfügen und ohne Verzögerung so reagieren, wie es notwendig sei. Erst dann dringe man durch die chaotische Überfülle der unzähligen gleichzeitigen Bewegungen der Wirklichkeit und erreiche die Weisheit des tausendarmigen Buddha, der, sich auf keinen einzelnen Arm konzentrierend, alle tausend Arme gleichzeitig und völlig funktional bewege. Dann werde man selbst ein Buddha, ein Erwachter.
Zeit und Fenster
In einem eher kleinen buddhistischen Tempel an Kiotos Nordrand gibt es zwei Fenster nebeneinander, ein viereckiges und ein kreisrundes. Das eine heißt Fenster der irdischen Sorgen, das zweite Fenster der Erleuchtung. Durch beide hindurch sieht man auf denselben Tempelgarten.
Der sinnliche Eindruck spricht für sich. Was ist der Unterschied? Nehmen Sie sich selbst als Beispiel. Sie lesen gerade Zeitung. Wie fühlen Sie sich? Wahrscheinlich eher pragmatisch. Sie wollen von jemandem anderen etwas erfahren, was Sie noch nicht wissen. Sie leben Ihre Zeit auf etwas ausgerichtet, wie ein Pfeil, der auf etwas zeigt, was sich aber erst zeigen soll. Sie können sich wahrscheinlich auch ganz gut andere Leserinnen vorstellen, denen es eher eine Qual ist, diesen Essay zu lesen. Die hören einem Menschen zu, der vor sich hin schwafelt, dem es aber gelungen ist, eine Qualitätszeitung dazu zu überreden, sein unwissenschaftliches Kauderwelsch abzudrucken. Gleichzeitig können sie nicht aufhören zu lesen, denn sie meinen, irgendwann müsse ja noch etwas kommen, das gibt's ja nicht, das kann doch nicht bis zum Ende der Seite so weitergehen. Sie warten auf den Moment, wo sich die Lektüre schließt wie ein Zimmer, das sie endlich verlassen können.
Schließlich gibt es die, die lesen und nichts Besonderes erwarten, die einfach so eine gute Zeit haben, weil sie es genießen, wie sich der Geist bewegt, die Doppelhelix aus den Gehirnen des Autors und des Lesers. Es gibt in diesem Moment nichts anderes als diese Lektüre, und sie ist, so bescheiden der Text auch ist, einer jener Momente des Lebens, wo es kein Bedürfnis nach etwas anderem gibt.
Es gibt ein aus drei Formen zusammengesetztes Zen-buddhistisches Symbol, das den Weisen, Zeitlichkeit zu leben, entspricht: Viereck, Dreieck und Kreis. Hölle, Fegefeuer, Himmel.
Das Viereck steht für die begrenzte Welt, für klar definierte Zeiteinheiten. Man fühlt sich in einer Situation eingeschlossen und wartet nur darauf, dass sie vorbei ist. Dann lässt man sie hinter sich und ist froh und erleichtert. Vorerst. Schon wartet die nächste Einheit. Die Zeit besteht hier aus abgeschlossenen Einheiten, besteht wie aus den Zellen eines Gefängnisses. Es ist ontologisch egal, in welcher von ihnen man sich gerade aufhält. Letztlich wird alles zum Futter einer nicht enden wollenden Depression.
Das Dreieck hat wie der Pfeil eine Spitze, die von wo weg woanders hin führt. Hier findet Veränderung, vielleicht auch Verbesserung statt, jedenfalls ist die Gegenwart hier Funktion einer Zukunft. Unklar ist, ob die, die so leben, das Ziel jemals erreichen werden. Aber wahrscheinlich werden sie es gar nicht bemerken. Denn vor lauter Vorhaben und potenziellen Optimierungen leben sie ohnehin nicht in der Gegenwart.
Es ist eine andere Zeit, ein anderer Garten, ob man durch das viereckige Fenster der irdischen Sorgen, durch das dreieckige der Projekte oder schließlich durch das kreisrunde blickt. Stellen Sie sich vor, dass Sie jetzt gerade im Mittelpunkt eines sich wellenförmig ausbreitenden Zeitkreises sitzen. Sie werden nicht nur theoretisch wissen, sondern praktisch spüren, dass sich die Wirklichkeit jetzt und hier ereignet. Vollkommen in der Zeit und vollkommen zeitlos zugleich. Wie Bashos Frosch, der in den alten Teich hüpft und nur das Glucksen des Wassers zurücklässt.
Rauchen
Im Dojo machen wir auch mal Pause. Wenn der Komponist dabei ist, schnorre ich Zigaretten. Perfektion sieht anders aus. Wir rauchen, trinken Tee und machen uns über uns selbst lustig. Unlängst hat der Burgschauspieler erzählt, wo er das herhat, die Sache mit der Zeit, die den Menschen betrachtet. In einem Übungstempel ist immer einer dafür verantwortlich, die Zeit der Schweigemeditation durch ein Glöckchen zu eröffnen und nach ca. einer halben Stunde wieder zu beschließen. Für die Zeitmessung zündet er ein Räucherstäbchen an und steckt es vor sich in den Sand einer Schale. Ist es heruntergebrannt, ist die Sitzung zu Ende. In einem Tempel stand auf der Schale geschrieben: Du Mensch betrachtest die Zeit, doch die Zeit betrachtet dich. Damit auch er nicht vergisst, worum es geht. (Diethard Leopold, Album, DER STANDARD, 31.8./1.9.2013)